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London

London

Titel: London Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edward Rutherfurd
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Elite der englischen Beamtenschaft in Indien hatte eine profunde Kenntnis des Subkontinents erlangt. Die Armeeoffiziere beherrschten häufig die lokalen Sprachen, und gebildete Soldaten wie Colonel Meredith waren nichts Ungewöhnliches.
    Als er äußerte, er habe nie Zeit gehabt zu heiraten, war das zum Teil die Wahrheit. Er hatte viel Zeit in Indien, China und Arabien verbracht. Über seine amourösen Eroberungen sagte er nichts, doch sie waren legendär. Die Wirkung auf Mary Anne war unerwartet und erregend. Beim ersten Gurkensandwich empfand sie dasselbe Schwindelgefühl wie damals bei ihrer Ballonfahrt. Als er ihnen Walnußtorte servierte, wußte sie nur noch, daß sie ihr Haus, ihre schwierige Tochter und ihren Mann verlassen und in Meredith' Arme stürzen wollte. Um sich wieder zurück ins Umfeld ihrer Familie zu zwingen, fragte sie: »Violet möchte zur Universität gehen. Was halten Sie davon?«
    Violet war anfangs eher verdrossen, doch dann hatte sie die Bücher an der Wand entdeckt und Meredith danach gefragt. Neben den üblichen englischen Klassikern und einer Sportabteilung mit Titeln wie Großwildjagd in Bengalen standen hier auch persische und arabische Bücher und sogar zwischen Holz gepreßte Schriftrollen in Sanskrit. »Wie viele Sprachen beherrschen Sie?« hatte Violet gefragt. »Sieben, und ein paar Dialekte«, hatte er geantwortet.
    Nun, auf Mary Annes Frage hin, sagte er ruhig: »Es kommt darauf an, wozu Sie auf die Universität gehen wollen.«
    »Weil ich mich langweile«, antwortete Violet offen. »Die Welt meiner Eltern ist absurd.« – »Nicht absurd«, widersprach Meredith. »Aber wenn Sie meinen, daß Sie Ihren Horizont erweitern wollen, ist die Universität als solche nichts für Sie, obwohl sie hilfreich sein kann. Ich selbst war nie auf einer Universität.« Er lächelte. »Im Grunde ist es eine Sache des Charakters. Schicksal, nehme ich an.«
    Das schien Violet zum Schweigen zu bringen, und Mary Anne war Meredith dankbar, daß er so geschickt mit der Frage umgegangen war. Aber das Mädchen war immer noch entschlossen, Arger zu machen. Gerade als sie aufbrechen wollten, blickte Violet auf die Mokassins am Kamin und eine lange indische Holzpfeife auf dem Tisch und fragte: »Tragen Sie jeden Abend diese Mokassins und rauchen diese Pfeife, Colonel Meredith?«
    »Ja, in der Tat«, gab er zu.
    »Wollen Sie es uns nicht zeigen, bevor wir gehen? Ich bin sicher, meine Mutter würde Sie gerne in Ihrem natürlichen Aufzug sehen.«
    »Violet, wirklich!« Mary Anne errötete.
    Meredith schien das jedoch eher amüsant zu finden. »Warten Sie einen Augenblick«, sagte er und verließ den Raum. Als er zurückkam, trug er einen roten Morgenmantel aus orientalischem Seidenbrokat und einen roten Fes auf dem Kopf. Er schlüpfte in die Mokassins, setzte sich auf den Sessel neben den Kamin, füllte fachmännisch die Pfeife, zündete sie an und begann zu ziehen. »Reicht das?« fragte er. Mary Anne fand den Anblick Meredith' in seinem »natürlichen Aufzug« abstoßend, aber das war nichts im Vergleich zu dem Gefühl, das sie hatte, als er beim Abschied ihre Hand diskret drückte und sagte: »Ich hoffe, wir sehen uns wieder.«
    »Es ist ein Dilemma, Muriel.« Der Earl of St. James schüttelte den Kopf. Vor zwei Tagen war Mr. Gorham Dogget aus Boston gekommen und hatte erklärt, unmittelbar nach Weihnachten werde er seine Frau und seine Tochter aus dem feuchten Winter zu einer dreimonatigen Kreuzfahrt auf den Nil und über das Mittelmeer mitnehmen. Ob Nancy und ihre Mutter danach wieder nach London kommen würden, war noch nicht entschieden.
    Das Problem mit der Cutty Sark war ihre Robustheit. Ihr Kapitän konnte mehr Leinwand aufziehen, als jeder andere es wagen würde, und trotzdem pflügte sich der Klipper gefahrlos durch die rauheste See. »Barnikel mag ja sagen, daß wir sie schlagen können, aber es ist ein zu großes Risiko«, fuhr der Earl fort. »Wir sind nicht mehr in der Zeit.« Lady Muriel kaute nachdenklich Dörrobst. »Ich mache ihr morgen einen Antrag«, schloß St. James.
    Vielleicht hätte Esther Silversleeves mehr Selbstvertrauen gehabt, wenn die Ehemänner ihrer Schwestern nicht so erfolgreich gewesen wären. Jonas und Charlotte Barnikel waren, obwohl der Kapitän bei seinen vielen Reisen ein kleines Vermögen gemacht hatte, solide Geschäftsleute geblieben. Die Pennys dagegen waren eine etablierte Familie der City, besuchten die Dinners der Livreegesellschaften und gingen hin und wieder

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