London
würde sie doch sicher Mitgefühl zeigen! Als es endlich hell wurde, bündelten sich ihre Hoffnungen in diesem einzigen, lebenswichtigen Punkt. Irgendwie mußte sie es schaffen, ihrer Herrin auf dem Weg von der Sklavenhütte zum Schiff diese Botschaft zukommen zu lassen.
Das Licht kroch unter dem Türschlitz hindurch. Nach einer Weile ging die Tür auf, und der Friese kam herein. Schweigend reichte er ihnen ein paar Gerstenfladen und Wasser, dann verschwand er wieder. Ein Weilchen später tauchte er mit vier seiner acht Matrosen auf und führte sie alle in den kalten, grauen Morgen hinaus.
Am Ufer standen ein paar Leute, um beim Verladen der Sklaven zuzusehen. Sie sah den Viehhändler, den Vorarbeiter, die Frau, der sie tagtäglich bei ihrer Arbeit geholfen hatte. Aber von Cerdics Familie war niemand da.
Dann kam sie an einer der Frauen vorbei, der Köchin. »Ich bin schwanger!« flüsterte sie ihr zu. »Laß Lady Elfgiva dies wissen. Rasch!«
»Ruhe da hinten!« befahl der Friese barsch.
Ricola blickte die Frau beschwörend an. Das breite sächsische Gesicht der Köchin wirkte eingeschüchtert. Sie rührte sich nicht. Dann kam Ricola am Vorarbeiter vorbei. »Ich bin schwanger!« rief sie ihm zu. »Kannst du dies der Herrin berichten?«
Er starrte sie unbewegt an. Da kam die Peitschenschnur auf ihren Rücken herabgesaust und ließ sie aufschreien vor Schmerz. Aber sie hatte nichts zu verlieren. Den Schmerz mißachtend, schrie sie aus vollster Kehle: »Ich bin schwanger! Lady Elfgiva! Ich bin schwanger! Ich trage ein Kind!«
Ein weiterer Peitschenhieb. Kurz fürchtete sie, ohnmächtig zu werden. Sie fühlte, wie starke Arme sie das Ufer herabzerrten, während sie immer wieder brüllte: »Ein Baby… Ich werde ein Baby bekommen!« Ihr Körper bebte vor Schmerz und Entsetzen, aber noch immer rührte sich niemand, und dann saß sie im Boot, während die Matrosen des Friesen stoisch ein paar andere Güter verluden.
Die Botschaft, die sie in die Welt hinausgeschrien hatte, hatte sich doch sicher in der ganzen Niederlassung verbreitet. Elfgiva oder zumindest jemand aus ihrer Familie hatte sie doch sicher gehört! Sie blickte auf die Sklaven aus dem Norden. Sie wirkten resigniert, fast leblos; sie hatten keinerlei Hoffnung. Irgendein fränkisches Gut oder ein Hafen am Mittelmeer erwarteten sie, dort würden sie schuften müssen, bis ihre Kräfte sie verließen, und wenn sie dann nichts mehr wert waren, würde man sie fallenlassen. Und was passierte mit schwangeren Frauen? Durfte eine Frau bei ihrem Mann bleiben? Wahrscheinlich nicht. Und was passierte mit dem Kind? Wer immer sie kaufte, vielleicht ließ er es leben, aber meistens, hatte sie gehört, wurde es gleich nach der Geburt ertränkt. Ein Baby hatte keinen Nutzen. Sie blickte zurück zum Ufer. Lundenwic, der Landeplatz, an dem die Angelsachsen ihre Söhne und Tochter verkauften. Sie haßte diesen Ort.
»Scheint ihnen nicht viel auszumachen, daß wir nun auf diese Art und Weise gehen, oder?«
Plötzlich wurde ihr klar, daß sie in ihrer Verzweiflung seit dem letzten Abend nicht mehr mit Offa gesprochen hatte. Der arme Offa, der den Dorfältesten mit einer Nadel gestochen und bei ihrem gescheiterten Plan mitgemacht hatte. Offa, der Vater ihres Kindes, das wahrscheinlich sterben mußte. Sie sah ihn stumm an. Die Matrosen waren nun bereit zur Abfahrt. Es war vorbei. Sie hatte verloren. Kopfschüttelnd starrte sie auf den Boden des Bootes und sah nicht, daß Elfgiva zum Fluß herunterkam.
Es war nicht nur Ricolas Schrei, der Elfgiva hierhergerufen hatte. Es war noch etwas anderes, etwas, das zwischen dem Ehepaar in dieser Nacht in Cerdics Halle passiert war, der winzige Samen der Freude in dieser langen Nacht der Wintersonnwende. Als Elfgiva am nächsten Morgen von ihrem Mann wachgeküßt wurde und den Schrei des Mädchens hörte, war es diese neue, geheime Wärme, die sie dazu brachte, Mitleid mit Ricola und ihrem Mann zu empfinden.
So fanden sich die beiden bald darauf zu ihrer großen Überraschung vor der langen, strohgedeckten Halle und vor ihrer Herrin stehend wieder.
Es war ein sehr kurzes Gespräch. Elfgiva gebot ihnen sofort zu schweigen, als sie zu einer stammelnden Erklärung ansetzten. Sie wollte nichts hören. »Ihr habt Glück, daß ihr nicht auf dem Sklavenboot seid, und nun könnt ihr euch noch glücklicher schätzen, denn ich schenke euch eure Freiheit. Geht, wohin auch immer ihr gehen wollt, aber laßt euch nie wieder hier in Lundenwic
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