London
es je erlebt, daß er sein Wort brach. Seine einzige Schwäche war ein Rückenleiden, das er sich bei einem Reitunfall zugezogen hatte, doch nur diejenigen, die ihm nahestanden, wußten, daß er oft unter Schmerzen litt. Sein Name war Leofric, und er war Kaufmann in London.
Leofrics Begleiter wirkte im Vergleich zu ihm wie ein Riese. Hrothgar der Däne überragte seinen sächsischen Freund um einiges. Er hatte einen dichten, roten Haarschopf und einen ebenso dichten und fast einen Meter langen, roten Bart. Dieser riesige Wikingernachfahre konnte mit jeder Hand einen erwachsenen Mann hochheben. Er war berühmt für seine periodischen Wutanfälle, bei denen sein Gesicht so rot wurde wie seine Haare. Wenn er mit der Faust auf den Tisch schlug, erblaßten starke Männer; wenn er ein tiefes Brüllen ausstieß, wurden die Türen aller nahe gelegenen Häuser geschlossen. Dennoch achteten die Nachbarn den reichen, mächtigen Edelmann sehr, was wohl auf seine Vorfahren zurückzuführen war. Vor zwei Jahrhunderten hatte sich sein Ururgroßvater den Ruf eines furchterregenden Wikingerkriegers verdient, der jedoch Kinder stets verschonte. Sein Befehl, »Bairn ni kell« – tötet keine Kinder! – war so bekannt, daß ihm daraus ein Spitzname erwachsen war. Fünf Generationen später hießen seine Nachfahren noch immer Bar-ni-kel. Da er auf dem östlichen der zwei Londoner Hügel lebte und an der am Fuß dieses Hügels liegenden Anlegestelle Billingsgate seinen Handel abwickelte, war er bekannt als Barnikel von Billingsgate.
Der grüne Umhang des Sachsen war gesäumt mit rotem Eichhörnchenfell, Barnikels blauer Umhang mit teurem Hermelin vom Wikingerstaat Rußland, was deutlich zeigte, wie reich er war. Und wenn der Sachse dem reichen Dänen eine gewisse Summe schuldete, was war dies schon unter Freunden? Im nächsten Jahr sollte der Sohn des Nordmanns Leofrics Tochter heiraten.
Barnikel fand an kaum etwas größeren Gefallen. Wann immer sein Blick auf das Mädchen fiel, wurden seine Züge weicher, und ein Lächeln zeigte sich auf seinem riesigen Gesicht. »Du hast Glück, daß ich sie für dich ausgesucht habe«, sagte er seinem Sohn immer wieder äußerst zufrieden. Sie war zwar ein schüchternes Mädchen, doch sie hatte ein angenehmes Lächeln und sanfte, nachdenkliche Augen. Obwohl sie erst vierzehn war, konnte sie einen Haushalt leiten; sie konnte lesen und verstand fast ebensoviel vom Geschäft seines Vaters wie dieser, wie er seinem Freund einmal gestanden hatte. Bereits jetzt fühlte sich der riesige, rotbärtige Däne ihr gegenüber wie ein Vater. »Und was Leofrics Schulden betrifft, so werde ich sie ihm bei der Hochzeit erlassen«, vertraute er seiner Frau an. »Doch sag ihm noch nichts davon!«
Der Witan hatte sich zu seiner Sitzung begeben, und die beiden Männer warteten, wobei sie von einem Fuß auf den anderen traten, um die Kälte zu vertreiben. Die verhüllte Gestalt beobachtete sie nachdenklich. Er wußte, daß für die beiden Männer an diesem Tag viel auf dem Spiel stand, doch der Sachse schwebte wohl in der größeren Gefahr, was ihm durchaus gelegen kam. Er hatte Leofric am Vortag eine Nachricht zukommen lassen, auf die der Sachse bis jetzt noch nicht reagiert hatte. Doch bald würde er dies tun müssen. »Und dann«, murmelte die Gestalt, »wird er mir gehören.«
Ein Sachse und ein Däne, und dennoch hätten sowohl Leofric als auch Barnikel ohne Zögern behauptet, Engländer zu sein, wenn man sie nach ihrem Vaterland gefragt hätte. Um das zu verstehen und auch das Wesen der Wahl, vor der der Witan an diesem schicksalsträchtigen Januarmorgen des Jahres 1066 stand, muß man sich die Entwicklung in der nördlichen Welt vor Augen führen.
In den vier Jahrhunderten seit Augustins Mission in Britannien hatten sich die zahlreichen angelsächsischen Königreiche langsam zu einer Einheit zusammengefunden, die England hieß, auch wenn das keltische Schottland und Wales an dieser Entwicklung nicht beteiligt waren. Und dann war England unter der Herrschaft König Alfreds vor zwei Jahrhunderten beinahe zerstört worden.
Der Einfall der furchterregenden Wikinger in die nördliche Welt dauerte mehrere Jahrhunderte. Diese Nordmänner – Schweden, Norweger und Dänen – sind von manchen als Händler, von anderen als Forscher oder Piraten bezeichnet worden, und alle diese Bezeichnungen trafen zu. Sie durchpflügten die Weltmeere auf ihren Langbooten und gründeten Kolonien in Rußland, in Irland, der
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