London
blicken!« Ungnädig winkte sie sie weg.
An diesem Nachmittag begann es zu schneien. Die Flocken fielen sanft und stetig und bildeten bald eine Decke auf dem Flußufer. Offa und Ricola gingen nicht sehr weit. Unten an der Furt auf der Insel, die Thorney genannt wurde, baute Offa im Schutz von ein paar Büschen eine einfache Hütte. Der Schnee half ihm. Er arbeitete rasch und errichtete um seine Hütte einen Schneewall, so daß sie es bei Einbruch der Dunkelheit in ihrem kleinen Unterschlupf einigermaßen warm hatten. Am Eingang entzündete er ein Feuer. Die Köchin hatte ihnen noch Gerstenfladen und etwas Fleisch, das vom Fest übriggeblieben war, zugesteckt. Damit würden sie ein paar Tage auskommen. Doch bald nach Einbruch der Dunkelheit näherte sich ihrem kleinen Lager ein vermummter Reiter, der sich im Licht des Feuers als der freundliche junge Wistan entpuppte. Er reichte ihnen etwas Schweres, das er hinter sich auf dem Sattel hierhergeschafft hatte, eine Hirschkeule. »Morgen früh sehe ich wieder nach euch!« versprach er und ritt davon.
Und so begann das neue Leben für das junge Paar draußen in der Wildnis. »Jetzt können wir unsere Haare wieder wachsen lassen«, erinnerte Offa Ricola lächelnd. »Zumindest sind wir keine Sklaven mehr.« Mit Fett aus der Hirschkeule versuchte Offa, die Wunden auf Ricolas Rücken zu lindern. Sie sprachen beide nicht über die Nacht, die sie mit Cerdic verbracht hatte, weder an diesem Abend noch später. Aber als er sie fragte: »Bist du wirklich schwanger?« und sie nickte, überkamen ihn große Freude und Erleichterung. »Hier werden wir es schon ein paar Tage aushalten«, sagte er. »Und dann lasse ich mir etwas Neues einfallen.« Das Flußtal war fruchtbar. Der Fluß würde für sie sorgen.
In der Mitte dieses Winters keimte noch ein anderes neues Leben. Im zweiten Monat des Jahres war Elfgiva sich sicher, daß sie schwanger war. »Wahrscheinlich ist es an Modranecht passiert«, erklärte sie ihrem Mann, der die Neuigkeit überrascht und freudig aufnahm. Sie spürte, daß dieses Kind ein Mädchen werden würde, doch dies sagte sie ihm nicht.
Nun blieb Elfgiva noch eine Pflicht zu erfüllen. Doch erst im vierten Monat des Jahres, zum Fest Eostre, kehrte Bischof Mellitus nach Lundenwic zurück, um die Errichtung der kleinen Kathedrale zu überwachen. Die Arbeit ging flott voran. Cerdic und die ortsansässigen Bauern stellten weitere Arbeiter zur Verfügung, und unter der Leitung der Mönche erbauten sie mit den herumliegenden römischen Steinen und Fliesen die Wände, ein bescheidenes Rechteck, an dessen einem Ende sich eine kleine, runde Apsis befand. Das Dach bestand aus Holz. Schließlich stand die Kirche unter dem Gipfel des westlichen Hügels und sah recht ordentlich aus.
Kurz vor Eostre führte Cerdic Elfgiva an den kleinen FleetFluß. Am Ufer kniete sie nieder, und Bischof Mellitus befeuchtete ihre Stirn mit Wasser. »Da Euer Name ›Geschenk der Elfen‹ bedeutet«, erklärte der Bischof lächelnd, »werde ich Euch nun mit einem neuen Namen taufen. Von nun an sollt Ihr Godiva heißen, ›Geschenk Gottes‹.«
Am selben Tag hielt er eine Predigt vor den Leuten von Lundenwic, in der er ihnen noch einmal genauer erklärte, welche Leiden Christus auf sich genommen hatte und wie dieser wunderbare Gott nach der Kreuzigung von den Toten auferstanden ist. Dieses große Kirchenfest sei besonders wichtig, sagte er ihnen, und falle immer auf diese Zeit im Jahr. So wurde dieses wichtige Christenfest in den darauffolgenden Jahren unter dem heidnischen Namen Ostern bekannt.
Die Bekehrung der Angelsachsen zum Christentum und der Wiederaufbau der alten römischen Stadt Londinium – oder Lunden, wie die Sachsen sie nannten – liefen in der Folgezeit nicht reibungslos ab. Etwa zehn Jahre später, als der König von Kent wie auch der von Essex starben, lehnten sich ihre Untertanen gegen die neue Religion auf, und die Bischöfe mußten fliehen.
Doch sobald die römische Kirche einmal Fuß faßte, gab sie nicht so leicht wieder auf. Die Bischöfe kehrten zurück. Im nächsten Jahrhundert gingen große Missionare wie etwa Bischof Erkonwald in die abgelegensten Wälder, und die angelsächsische Kirche mit ihren berühmten Heiligen wurde zu einem der hellsten Lichter der christlichen Welt.
In den darauffolgenden Jahrhunderten entwickelte sich Lundenwic zu einem bedeutenden sächsischen Hafen. Erst viel später, zu Zeiten König Alfreds, wurde die römische Stadt wieder
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