Lord Gamma
Anwesenheit verwirrt mich. Du hättest besser eine andere Gestalt gewählt. Dieser See liegt in den Green Mountains, in einem Staat namens New Hampshire. Ich nenne ihn das Auge des Bären. Ich glaube, er besitzt keinen wirklichen Namen. Meine Vorfahren kennen ihn sicher. Vielleicht nennen sie ihn ebenso. Stan und ich waren von New York aus mit dem Wagen angereist. Wir waren Meile um Meile durch Feuertunnel gefahren, auf glühende Berge zu und entlang brennender Steilhänge. Unausweichlich sahen wir Rot und Gelb und Orange. Stan hatte bereits begonnen, Erholung davon zu suchen, ehe wir unser Ziel erreichten, einen alten Landgasthof am Sugar Hill. Er hatte jeden Baum entlang der Straße liebgewonnen, der seit Jahren tot war und nichts mehr zur Schönheit des Indian Summer beitragen konnte, und den Abend genossen, als die Dunkelheit die Orgie der Farben verschluckte. Am nächsten Morgen war es, als hätte Asche hauchdünn auf dem langgestreckten Hügel und dem Gasthof gelegen, ehe die Sonne sie wieder zum Glühen brachte. Vom Sugar Hill bis zu diesem See sind es zwei Tage Fußmarsch. Stan hatte sich eine Sonnenbrille gekauft und sie tagsüber nicht mehr abgesetzt. Er hat mir fast leid getan, aber ich glaube, es war nur Show.
Als ich den Indian Summer nach so vielen Jahren wieder an diesem Ort erleben durfte, war ich wie berauscht. Die Uferbäume spiegelten sich nicht im stahldunklen Wasser, sie schienen vielmehr tief auf den Grund des Sees gesunken zu sein. Als ich in die Baumkronen hinaufschaute, entdeckte ich im Gegenlicht Farben und Strukturen, die ich als Kind nie wahrgenommen hatte, und ob die Blätter rot oder orange oder purpur waren – alle besaßen sie goldene Ränder. Drüben, wo der Bach in den See mündet, hatte sich an einem Ast ein Strudel gebildet, auf dem ein rotes Blatt tanzte. Ich hob es aus dem Wasser – ein Tropfen vom Blut des Großen Bären, den ich seither in einem kleinen Bilderrahmen aufbewahre. Am Abend war schließlich Wind aufgekommen, und es begann, purpurn, zitronengelb und schokoladenbraun von den Bäumen zu regnen …« Sie lächelt verträumt, wird jedoch schnell wieder ernst. »Warum bist du hier?« fragt sie das Stan-Ebenbild. Dann: »Es ist wieder soweit, nicht wahr?«
»Ja.«
Seine Einsilbigkeit beunruhigt sie. »Warum bist du so schweigsam?«
»Es wird sehr weh tun, Prill.«
DRITTER TEIL
Babalon
Alphard 8
FREDERICK BARTELL besaß den Charme eines Zitteraals, der trotz seiner sechsundfünfzig Jahre noch immer in der Lage war, Stromstöße zu verteilen, wenn man ihn versehentlich berührte. Daß er einst Flug 929 kommandiert hatte, war ihm gewiß nicht mehr bewußt. Die Lords hatten ihm großzügigerweise das Talent gelassen, Verantwortung zu übernehmen, was ihn zum Adjutanten des hiesigen Lords qualifizierte. Frederick war oberster Richter und Verwaltungschef der Station. Seine Kapitänsuniform hatte er gegen eine maßgeschneiderte Amtstracht eingetauscht, die ihn wie einen versnobten Haute Couturier wirken ließ. Seine verbliebenen Haare bildeten einen schlohweißen Kranz um sein Haupt, der ihm bis zu den Schultern reichte. Er bewegte sich mit der Trägheit eines Faultiers durch die Menge und erweckte den Eindruck, als könnte er jeden Moment einen Schwächeanfall erleiden. Seine grauen Augen blickten jedoch mit höflicher Aufmerksamkeit und Schärfe. Ich war mir sicher, daß ihm kaum etwas von dem entging, was sich um ihn herum abspielte.
»Zoë ist nicht zugegen«, waren seine ersten Worte an mich, als ich um 19:52 Uhr atemlos im Club eintraf. Fredericks Stimme klang freundlich, doch sie schnitt wie eine Rasierklinge durch meine Selbstsicherheit und bestärkte meine Vermutung, daß man über mich Bescheid wußte.
»Vielleicht ist sie krank«, antwortete ich. »Leider habe ich sie heute noch nicht gesehen. Sie wissen ja …«
Frederick nickte. Blieb nur zu hoffen, daß man Zoë keinen Kontrollbesuch abstattete, denn sie lag natürlich nicht in ihrem Quartier, sondern neben Stan II auf dem Bett in dessen Unterkunft. Beide schliefen selig, und solange niemand auf die Idee kam, sie aufzuwecken, würden sie es auch noch während der kommenden zehn Stunden tun. Die beiden hatten sich eine Erholung verdient. Stans Verbindlichkeiten dem Lord gegenüber würden so hoch sein wie Fredericks Selbstgefälligkeit, falls ans Licht kam, daß ein Außenweltler seinen Platz eingenommen hatte, während er zusammen mit Zoë das Spiel in seinem Quartier
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