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Lord Gamma

Lord Gamma

Titel: Lord Gamma Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Marrak
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sein?«
    Stan’s Augen suchten die Wanduhr. Sie zeigte 18.16 Uhr. »Wenn ich nicht spätestens in neunzig Minuten drüben bin, schickt Frederick jemanden, der mich abholt.«
    Ich sah Zoë an. »Kannst du mit Pinsel und Farbe umgehen?«
    »Was?« machte sie und schaute, als wäre sie soeben aufgewacht.
    Ich löste ihre Handfesseln. »Nein, die bleiben dran!« bestimmte ich, als sie mir auch ihre gefesselten Füße entgegenstreckte. »Wo hast du dein Schminkköfferchen, Stan?«
    Mein Klon lief rot an. »Im – Badezimmer. Woher …?«
    »Du hast Puder im Gesicht«, erklärte ich, lief ins Bad und suchte zusammen, was ich für nötig hielt.
    Stan II fragte: »Was haben Sie vor?« Er und Zoë tauschten Blicke, die zwischen gegenseitiger Beschuldigung und Zukunftsangst pendelten.
    »Ich trage ein paar überflüssige Narben im Gesicht, Stan. Ein wenig Retusche kann nicht schaden. Hier!« Ich plazierte ein Tablett mit Schminkutensilien auf Zoës Schoß. Dann setzte ich mich ihr gegenüber, die Pistole auf sie gerichtet. »Schau nach rechts, neben dir sitzt mein Ebenbild. Ich will, daß man uns nicht mehr voneinander unterscheiden kann, wenn du fertig bist.« Und an meinen Klon gewandt: »Warst du schon mal in der zweiten Ebene?«
    »Nein«, entfuhr es Stan II. »Babalon bewahre …«
    »Wo befinden sich die Lifte?«
    »Es gibt keine Lifte in die zweite Ebene. Nur Babalon führt hinab.«
    »Und wieder hinauf«, sagte Zoë.
    »Zumindest für die ersten sechs Spieler, die den Parcours bewältigen«, ergänzte Stan II.
    Ein Gesellschaftsspiel also, kein zweiter Lord. »Okay«, nickte ich, als mich Zoë zu schminken begann. »Während mich das Mädchen in dich verwandelt, wirst du mir alles über Nikobal, das Spiel und die beiden Ebenen erzählen, was ich wissen muß. Ihr habt eine Stunde Zeit.«

 
Isadom 2
     
     
    SIE SPRINGT HINUNTER auf den nächsten Felsbrocken, landet auf einer dicken Schicht aus trockenem Moos und Gräsern. Die Felsen füllen das gesamte Tal, wie die seit Jahrtausenden verwitternde Murmelsammlung eines Riesen. Felsen, Felsen und abermals Felsen, groß und rund wie Findlinge. Zwischen ihnen, wo das Erdreich tief genug ist, haben kleine Bäume und Sträucher in Herbstkleidern Fuß gefaßt. Es ist kühl im Tal, doch je tiefer sie kommt, desto milder wird es.
    Gazeleichter Dunst hängt zwischen den Bäumen, lange, taubehangene Spinnenfäden spannen sich zwischen den Sträuchern, Singammern und Drosseln huschen aufgeschreckt durchs Geäst. Tief unter den Felsen rauscht ein Bach, dessen Lauf sie folgt. Sie kann sein dumpfes Brodeln und Strudeln hören. Hier und da bringt es die Felsen zum Vibrieren. Dann hält sie inne, legt sich aufs Gestein, lauscht den sanften Schwingungen, die aus ihrem Inneren kommen. Quocha tapeh – die Stimmen der Erde. An manchen Stellen, wo sich kein Erdreich abgelagert hat, klaffen tiefe Löcher und Spalten. Auf verschlungenen Wegen führen sie hinab, erlauben Blicke auf die Felsen darunter, und die darunter …
    Aber sie kann das Wasser nicht sehen, das sich unter ihnen seinen Weg bahnt. Erst am Ende des Felsenmeers tritt es sprudelnd zutage, um gleich darauf in einen kleinen See zu münden. Der See tief unten im Tal ist ihr Ziel. Sie kann seine Lage nur ahnen, dort, wo das blutrote Laub der Bäume und ihrer weit über das Wasser hängenden Äste am intensivsten leuchtet; wo sich das Blut des Großen Bären sammelt und den Wald flammenlos brennen läßt.
    Auf halber Strecke zum See hält sie inne, streicht gedankenverloren ihre nackten Sohlen über das Moos und sieht hinauf zum Licht. Es leuchtet noch immer an der Stelle, wo sie den Wald betreten hat und das Felsenmeer beginnt. Der Dunst läßt es wie einen irisierenden Wächter erscheinen.
    Unten am Seeufer hat die über den Bergkämmen hängende Sonne den Dunstschleier vertrieben. Ihre Strahlen lassen die Birken, die das Gewässer umgeben, ihre Farbnuance zum Palettenzauber des Herbstes beisteuern. Dazwischen schimmern die Blätter der Walnußbäume und das Purpur von Ahorn und Eschen.
    Knallgelb leuchten Buchen und Maulbeerbäume, und sogar der Hickory auf der kleinen Insel in der Mitte des Sees.
    Die makellose Schönheit des herbstlichen Waldes macht es ihr schwer, an Winter und Verfall zu denken. Unzählige Moosbeeren treiben zwischen herabgefallenem Laub auf der Wasseroberfläche. Sie kleidet sich aus, läuft ins Wasser und schwimmt hinüber zur Insel. Das Eiland umfaßt kaum mehr als zwanzig Quadratmeter, doch es ist im

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