Lord Gamma
verschlief.
Ich hingegen stand in der Höhle des Löwen. Der ›Club‹ war ein Prunksaal von der Größe einer Sporthalle. Seine holzgetäfelten Wände umschlossen ein quadratisches Areal von annähernd 2500 Quadratmetern, die lüsterbehangene Decke erstreckte sich in über zehn Metern Höhe. Ein sechsköpfiges Ensemble spielte Musik auf klassischen Instrumenten. Ich befand mich ohne Zweifel im zentralen Versammlungsort und kulturellen Herz der Station.
Ich musterte den jungen Burschen neben Frederick. Sein Name war Brendan, und es war ihm anzumerken, daß er sich recht unbehaglich fühlte. Nikobals Adjutant legte großen Wert darauf, während der Spiele einen jungen Burschen an seiner Seite zu führen. Er nannte diesen Auserwählten seinen Überraschungs-Beau und bezahlte ihn dafür, eine gute Figur zu machen. Nicht als Nackttänzer auf der Bühne, sondern neben ihm; besser gesagt: an ihm. Er hatte charmant zu sein (oder zumindest für die Dauer der Veranstaltung dahingehend sein Bestes zu geben), freundlich, geradezu selig zu lächeln ob der Ehre, am Ende des Spiels den Hauptgewinner prämieren zu dürfen, und gefälligst die Klappe zu halten. In letzterem schien er Erfahrung zu haben, denn er blieb trotz des allgemeinen Rummels so stumm wie ein Fisch. Der Rest ließ sich improvisieren. Ich grinste ihn an. Wer wußte schon, was für Qualitäten und Talente es für Brendan zu entdecken gab, wenn ihm die Verlegenheit zwei Meter zu den Ohren herauswuchs.
In Brendans Augen blitzte es, dann senkte er den Blick und sah zu Boden. Daß er heute den Platz an Fredericks Seite einnahm, beruhte keinesfalls auf seiner Liebe zu parfümierten Mittfünfzigern. Er tat es weder aus Zuneigung noch aus Bewunderung. Seine Rolle gehörte, wie Stan II erklärt hatte, zum Spiel, und das Los war in diesem Monat auf ihn gefallen. Insgeheim war ich beruhigt, daß es sich bei Babalon nicht um einen zweiten Lord handelte, sondern um eine Mischung aus Unterhaltung, Turnier und Lotterie. Brot und Spiele – warum sollte es ausgerechnet in dieser Station anders sein?
Allerdings war die Kluft zwischen Sieg und Niederlage gravierend: Die Gewinner von Babalon waren für den Tag ihres Sieges über die Oberschicht privilegiert und durften künftig mit einem neuen Partner ihrer Wahl zusammenleben. Daß man sich für seinen bisherigen Partner entschied, verbot das Gesetz des Spiels. Da in der Station prinzipiell alle Bewohner liiert waren, zählten die bisherigen Gefährten der Gewinner automatisch zu den Verlierern und stiegen in die Unterschicht ab. Für sie wurden Bürger aus der zweiten Ebene in die Oberschicht aufgenommen und mit den freien Bewohnern vereint. Somit waren nicht nur die Spieler, sondern auch Unbeteiligte von Glück und Willkür betroffen, was die Spannung noch zu steigern wußte.
Gehörte man selbst zu den Verlierern, stieg man ebenfalls in die Unterschicht ab und wurde durch einen Bürger aus der zweiten Ebene ersetzt. In der Station herrschte somit ein ständiges Auf und Ab. Mal war man König, mal Bettler. Prill befand sich unglücklicherweise nicht unter den Bewohnern der Oberschicht. Ich war wohl oder übel gezwungen, an Babalon teilzunehmen, um sie als ›Prämie‹ einfordern zu können. Darauf, daß am Ende des Spiels die Wahl eines anderen Spielers auf sie fiel, konnte ich mich nicht verlassen.
Babalon war Geschicklichkeitsspiel und sportlicher Wettkampf zugleich. Laut Stan II galt es dabei, über einen vorgegebenen Parcours von Punkt A nach Punkt B zu gelangen. Was sich in Wirklichkeit hinter dieser schlichten Erklärung verbarg, mußte ich Prill zuliebe selbst herausfinden. An jedem Spiel nahmen sechs Frauen und sechs Männer teil, doch nur die Hälfte von ihnen erreichte das Ziel. Die Bewohner der zweiten Ebene waren von Babalon und der Partnerwahl ausgeschlossen und dadurch gänzlich dem Willen der Oberschicht unterworfen. In jedem Fall legte der Lord Wert darauf, daß die Ebenen von ebenso vielen Männern wie Frauen bevölkert waren, um die lückenlose Pärchenbildung zu gewährleisten. Altersunterschiede spielten dabei keine Rolle. Ob Seitensprünge sanktioniert waren, wußte ich nicht.
Daß der Lord persönlich im Club zugegen war, beunruhigte mich. Nikobal war ein riesiger, haarloser Bursche in der Gestalt eines wohlbeleibten Mittvierzigers. Bleich wie ein Albino scharwenzelte er in seinem als Smoking geschneiderten weißen Schutzanzug wie ein Marshmellow-Mann in meiner Nähe herum, betrieb Smalltalk mit den
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