Lord Peter 03 - Keines natürlichen Todes
direkt zum Lift, einem von der Sorte, die der Fahrgast selbst bedienen muß. Sie stieg ein und fuhr nach oben. Miss Climpson betrachtete die Orchideen und Rosen im Blumengeschäft und beobachtete dabei den Lift, bis er außer Sicht war. Dann trat sie ins Haus, den Sammelausweis sichtbar in der Hand.
In einer kleinen Glaskabine saß der Portier. Er erkannte Miss Climpson sofort als Fremde und fragte höflich, ob er ihr behilflich sein könne. Miss Climpson wählte von dem Bewohnerverzeichnis am Eingang aufs Geratewohl einen Namen und fragte nach Mrs. Forrest. Der Mann sagte, Mrs. Forrest wohne im vierten Stock, und kam aus seiner Kabine, um den Lift für sie herunterzuholen. Ein anderer Mann, mit dem er sich unterhalten hatte, kam ebenfalls heraus und bezog am Eingang Stellung. Als der Lift herunterkam, sah Miss Climpson, daß der Obsthändler inzwischen wieder zurückgekommen war. Sein Schubkarren stand jetzt direkt vorm Haus.
Der Portier begleitete sie nach oben und zeigte ihr die Tür zu Mrs. Forrests Wohnung. Seine Gegenwart war beruhigend. Sie wünschte, er bliebe in Rufweite, bis sie das Haus fertig abgesucht hatte. Aber da sie nun einmal nach Mrs. Forrest gefragt hatte, mußte sie auch dort beginnen. Sie drückte auf den Klingelknopf.
Zuerst glaubte sie, die Wohnung sei leer, doch nachdem sie ein zweites Mal geklingelt hatte, hörte sie Schritte. Die Tür ging auf, und eine furchtbar aufgedonnerte wasserstoffblonde Dame stand vor ihr, die Lord Peter sofort – und peinlich berührt – erkannt hätte.
»Ich bin gekommen«, sagte Miss Climpson, indem sie sich mit dem Geschick eines routinierten Hausierers schnell in die Tür zwängte, »um Sie zu fragen, ob ich Sie vielleicht zur Unterstützung unserer Mission gewinnen kann. Darf ich eintreten? Ich bin gewiß, Sie –«
»Danke, nein«, sagte Mrs. Forrest kurz angebunden und sehr eilig, etwas atemlos, als stünde jemand hinter ihr, den sie nicht mithören lassen wollte. »Missionen interessieren mich nicht.«
Sie versuchte die Tür zu schließen, aber Miss Climpson hatte genug gesehen und gehört.
»Großer Gott!« rief sie mit aufgerissenen Augen. »Also, das ist doch –«
»Kommen Sie herein.« Mrs. Forrest packte sie fast grob am Arm, zog sie über die Schwelle und schlug die Tür hinter ihnen zu.
»Na, so eine Überraschung!« sagte Miss Climpson. »Ich hätte Sie beinahe nicht erkannt, Miss Whittaker, mit diesen Haaren.«
»Sie!« sagte Miss Whittaker. »Ausgerechnet Sie!« Sie nahmen in den geschmacklosen rosa Seidenkissen des Wohnzimmers einander gegenüber Platz. »Ich hab doch gewußt, daß Sie eine Schnüfflerin sind. Wie sind Sie hierhergekommen? Ist noch jemand bei Ihnen?«
»Nein – doch – ich bin nur zufällig …«, begann Miss Climpson ausweichend. Ein Gedanke beherrschte sie vor allem anderen. »Wie sind Sie freigekommen? Was ist passiert? Wer hat Vera umgebracht?« Sie wußte, daß ihre Fragen ungeschickt und dumm waren. »Warum sind Sie so verkleidet?«
»Wer hat Sie geschickt?« fragte Mary Whittaker zurück.
»Wer ist der Mann bei Ihnen?« fuhr Miss Climpson unbeirrt fort. »Ist er hier? Hat er den Mord begangen?«
»Was für ein Mann?«
»Der Mann, den Vera aus Ihrer Wohnung hat kommen sehen. Hat er –?«
»So ist das also. Vera hat geplaudert. So eine Lügnerin. Ich hatte geglaubt, ich wäre schnell genug gewesen.«
Etwas, das Miss Climpson schon seit Wochen beschäftigte, nahm mit einemmal deutliche Gestalt an. Dieser Blick in Mary Whittakers Augen. Vor langer Zeit hatte Miss Climpson einmal bei einer Verwandten ausgeholfen, die eine Pension führte, und dort war ein junger Mann gewesen, der seine Rechnung mit einem Scheck bezahlte. Sie hatte wegen dieser Rechnung ziemlich energisch werden müssen, und er hatte den Scheck widerwillig ausgeschrieben, während er an dem kleinen Tischchen mit der Plüschdecke im Salon saß und sie ihn nicht aus den Augen ließ. Dann war er fortgegangen – hatte sich mit seinem Koffer davongeschlichen, als gerade niemand in der Nähe war. Der Scheck war zurückgekommen wie der sprichwörtlich falsche Fuffziger. Gefälscht. Miss Climpson hatte vor Gericht aussagen müssen. Und nun erinnerte sie sich an diesen merkwürdig trotzigen Blick, mit dem der junge Mann seinen Füller in die Hand genommen hatte, um sein erstes Verbrechen zu begehen. Heute sah sie diesen Blick wieder – eine unschöne Mischung von Verwegenheit und Berechnung. Es war der Blick, der Wimsey bereits gewarnt hatte und
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