Lord Peter 03 - Keines natürlichen Todes
weiter. Aber bei genauerem Hinsehen erschien das auch nicht sehr wahrscheinlich. Die Menge war zu klein, und überhaupt hätten zwei Stunden für die Verdauung ausreichen müssen – wenn es also daran gelegen hätte, wäre sie früher gestorben. Ich stand vor einem völligen Rätsel, und die Schwester auch. Der war es ganz arg.«
»Und die Nichte?«
»Die Nichte hat immer nur sagen können: ›Ich hab’s ja gesagt, ich hab’s ja gesagt – ich wußte doch, daß es schlimmer um sie stand, als Sie gemeint haben.‹ Nun, um es kurz zu machen, es hat mich so gepackt, daß meine Lieblingspatientin so mir nichts, dir nichts gestorben sein sollte, daß ich noch am nächsten Morgen, nachdem ich mir die Sache reiflich überlegt hatte, um die Erlaubnis für eine Autopsie bat.«
»Hat man Ihnen Schwierigkeiten gemacht?«
»Nicht die mindesten. Ein gewisser Widerwille, selbstverständlich, aber keinerlei Einwände. Ich erklärte, nach meiner Überzeugung müsse da noch eine versteckte Krankheit im Spiel gewesen sein, die ich nicht erkannt hätte, und mir wäre sehr viel wohler, wenn ich der Sache auf den Grund gehen dürfte. Das einzige, wovor der Nichte zu grausen schien, war eine gerichtliche Untersuchung. Ich habe gesagt – und das war wohl im Hinblick auf die herrschenden Gepflogenheiten nicht sehr klug von mir –, daß ich nicht glaubte, es werde zu einer gerichtlichen Untersuchung kommen müssen.«
»Das heißt, Sie wollten die Autopsie selbst vornehmen.«
»Ja – ich habe keinerlei Zweifel geäußert, daß ich schon eine hinreichende Todesursache finden würde, um den Totenschein ausstellen zu können. Ein bißchen Glück hatte ich auch dabei, denn die alte Dame hatte sich irgendwann einmal gesprächsweise für eine Feuerbestattung ausgesprochen, und die Nichte wollte es so halten. Das hieß, daß ich sowieso einen zweiten Arzt mit besonderen Qualifikationen brauchte, der den Totenschein mit mir zusammen unterschrieb, und diesen Mann habe ich überreden können, herzukommen und die Autopsie mit mir vorzunehmen.«
»Und haben Sie etwas gefunden?«
»Nicht die Spur. Mein Kollege hat mich natürlich einen Narren geheißen, daß ich so ein Theater machte. Er meinte, da die alte Dame doch sowieso über kurz oder lang gestorben wäre, hätte es völlig ausgereicht, als Todesursache Krebs, unmittelbare Ursache Herzversagen hinzuschreiben und fertig. Aber ich übergenauer Trottel mußte sagen, ich sei davon nicht überzeugt. An der Leiche war überhaupt nichts festzustellen, was den Tod auf natürliche Weise erklärt hätte, und so bestand ich auf einer Analyse.«
»Hatten Sie wirklich den Verdacht –?«
»Hm – nein, nicht direkt. Aber – ich war eben nicht zufrieden. Übrigens hat die Analyse klar ergeben, daß es am Morphium nicht gelegen hatte. Der Tod war so kurz nach der Injektion eingetreten, daß die Droge noch nicht einmal ganz den Arm verlassen hatte. Wenn ich es mir jetzt überlege, muß ich fast eine Art Schock vermuten.«
»Wurde die Analyse vertraulich vorgenommen?«
»Ja. Aber die Beisetzung verzögerte sich natürlich, und es gab Gerüchte. Die kamen dem Untersuchungsrichter zu Ohren, und er begann sich zu erkundigen, und dann hat sich noch die Schwester darauf versteift, ich unterstellte ihr Pflichtverletzung oder so etwas. Sie hat sich wenig standesgemäß benommen und erst recht für Gerede und Verwirrung gesorgt.«
»Und herausgekommen ist nichts dabei?«
»Nichts. Keine Spur von Gift oder sonst etwas dergleichen, und nach der Analyse standen wir so klug da wie zuvor. Natürlich dämmerte mir allmählich, daß ich mich gräßlich blamiert hatte. So habe ich dann – eigentlich entgegen meinem ärztlichen Urteil – den Totenschein unterschrieben: Herzversagen nach Schock, und meine Patientin kam nach einer turbulenten Woche ohne gerichtliche Untersuchung ins Grab.«
»Ins Grab?«
»Ach ja, das war der nächste Skandal. Die Leute vom Krematorium, die es sehr genau nehmen, hatten von dem Wirbel gehört und wollten die Leiche nicht annehmen, und so liegt sie nun auf dem Friedhof, damit man notfalls wieder auf sie zurückgreifen kann. Es war ein großes Begräbnis, und die Nichte wurde gebührend bedauert. Am nächsten Tag bekam ich von einem meiner einflußreichsten Patienten die Mitteilung, daß meine ärztlichen Dienste nicht mehr benötigt würden. Am übernächsten Tag ging die Frau des Bürgermeisters mir auf der Straße aus dem Weg. Meine Praxis wurde immer kleiner, und ich erfuhr,
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