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Loreley

Titel: Loreley Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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sehr gefäh r lich.
    Was würde geschehen, fragte sie, wenn du aufhören würdest zu spielen?
    Der Einzige, von dem ich weiß, dass er es versucht hat, wurde niemals wiederges e hen. Die Musik hat hier ein Eigenleben. Sie duldet es nicht, wenn man sich gegen sie auflehnt. Er seufzte erneut. Es ist schwierig, das alles in Worte zu fassen. Es lässt sich nicht einfach so erkl ä ren. Viel Erfahrung ist nötig dazu. Und sehr viel Geduld.
    Ailis gab auf. Entweder konnte er tatsächlich nicht darüber reden oder aber er wol l te es nicht. Beides machte es zwecklos, ihn länger auszufragen. Zumal ihr im A u genblick wahrlich genug anderes im Kopf umherging – Farben, Klänge, und vor allem immer noch das Unve r mögen, beides voneinander zu unterscheiden.
    Wir sind gleich da, sagte er plötzlich.
    Vor ihnen schälte sich etwas aus dem Wirrwarr der Eindrücke. Ich kann es sehen, sagte Ailis.
    Du kannst es hören, widersprach er. Aber du hast wahrscheinlich gemerkt, dass das hier ein und dasselbe ist.
    Die Zusammenballung vor ihnen gewann an Form, erst wabernd und unscharf, dann immer klarer. Schlie ß lich konnte Ailis erkennen, was es war. Mauern, Fenster, darüber ein Dach. Über dem Eingang ein Schild aus b e maltem Holz.
    War es möglich, dass man den Umriss eines Gastha u ses hören konnte?
     
    Der Schankraum war riesig, so groß wie drei Rittersäle, doch den meisten Menschen, die sich hier aufhielten, hätte dieser Vergleich wenig bedeutet. Sie hatten nie mit eig e nen Augen einen Rittersaal gesehen, was teils daran lag, dass viele von ihnen eilig einen Bogen schlugen, s o bald sie hinter Baumwipfeln und Berggipfeln die Zinnen einer Burg entdeckten. Und das aus gutem Grund.
    Gesindel aus allen Teilen des Reiches, aber auch aus Gegenden, die fern seiner Grenzen lagen, zechte an den Tischen, schöpfte Suppe und Eintopf aus hölzernen Sch a len oder saß einfach nur da und schaute einander beim Reden und Debattieren zu, beim Schmeicheln, Streiten und Stehlen, Saufen, Raufen und Betrügen. Dralle Schankmä d chen tänzelten zwischen den Tischen umher, Bierkrüge und Weinkelche in Händen und dabei stets bemüht, den frechen Fingern der Kundschaft zu entg e hen. Dichter Pfeife n rauch hing in der Luft, es roch nach schalem Bier, gekochtem Gemüse und leeren Stiefeln, die zum Lüften unter den Tischen standen.
    So weitläufig der Saal auch angelegt war, so niedrig hing seine Decke. Manch ein Gast, dem die Natur einen hohen Wuchs beschert hatte, musste sich unter den ve r zwei g ten Stützbalken bücken, wenn er von einem Tisch zum anderen ging. Nicht wenige, die häufiger hier ei n kehrten, behaupteten, der Gasthof sei während der ve r gangenen Jahre in sich zusammengesunken. Tatsächlich wurden immer wieder einzelne Stühle und Hocker en t deckt, die aussahen, als seien sie für Kinder gefertigt, obgleich doch der Wirt jeden Eid schwor, dergleichen nie in Auftrag gegeben zu haben. Denn das Schrumpfen der Schenke – so es denn tatsächlich stattfand und nicht nur eine Ausgeburt weinumnebelter Sinne war – ging ke i neswegs gleichmäßig vonstatten. Vielmehr fand sich mal hier, mal dort ein Hinweis darauf; sei es, dass ein Fenster zu klein für seinen Rahmen wurde, ein Tisch von einem Tag zum nächsten zwei kurze Beine hatte oder ein Bie r fass im einen Jahr für fünfzig Krüge reichte, im nächsten nur für fünfundvierzig.
    Die größte Besonderheit dieses Wirtshauses aber war weder sein mysteriöses Schrumpfen noch sein schmac k hafter, nach geheimem Rezept gefertigter Erbsenei n topf. Wirklich wundersam war vielmehr die Vorliebe des Gastwirts für Spinnen. Kein Winkel im ganzen Schan k raum, in dem sich nicht dichte Gewebe spannten, keine Wand, an der nicht Dutzende der kleinen Kletterer saßen und aus einer Vielzahl schwarzer Augen das Treiben der Gäste beobachteten. Spinnen, so hieß es, waren hier he i lig. Wer eine zerschlug oder versehentlich unter dem A b satz zertrat, wurde mit Hausverbot bestraft, und das hatte selbst mancher Gast, dem der Münzbeutel locker saß, erfahren müssen. Wer Spinnen tötete, ihre Beine in Ke r zenflammen hielt oder sie scherzhaft in das Essen and e rer mischte, hatte zu verschwinden. Ausnahmslos.
    Einmal, so besagte ein Gerücht, hatte eine Schan k magd einige Spinnen von einem Tisch entfernt, weil sich Gäste beschwerten, sie seien in ihre Krüge gekrochen. Als der Wirt davon erfuhr, warf er die Zecher hinaus. Auch die Schankmagd sah keiner jemals wieder. Es hieß, am

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