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Loreley

Titel: Loreley Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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Angelsachsen. Er wurde zu einem beliebten Treffpunkt all jener, die die Wege benutzten, und je öfter es angesteuert wurde, desto mehr verlagerte es sich aus der wirklichen Welt hierher. Die Stelle, an der es einst stand, gibt es heute nicht mehr. Sie existiert auf keiner Karte, das Land hat sich dort zusammengezogen wie Haut, die eine Wunde schließt. Deshalb ist es wichtig, die Spielmannswege nicht allzu oft zur Reise zum gleichen Ort zu benutzen – ansonsten könnte er sich in Luft aufl ö sen und hier wieder auftauchen, irgendwo im Netz der Wege.«
    Wenn Ailis ehrlich zu sich war, verstand sie nicht viel von dem, was er da erklärte, aber sie sagte sich, dass sie es irgendwann schon noch begreifen würde. Selbst Jam m rich hatte offenbar Mühe, die Gesetzmäßigkeiten dieser seltsamen Zwischenwelt mit Worten zu beschre i ben. Vielleicht war das auch gar nicht möglich – und, genau g e nommen, auch nicht unbedingt nötig. Verstand Ailis denn, was die Sterne am Himmel hielt? Oder w a rum Fische im Wasser atmen konnten? Ebenso wenig musste sie alles über diesen Ort und die Wege wissen, die hierher führten. Es reichte, wenn sie sich merkte, wie man Nutzen daraus zog.
    Als sie den Tisch erreichten, standen die Männer daran der Reihe nach auf und umarmten Jammrich. Einige l ä chelten Ailis aufmunternd zu, wahrscheinlich, weil sie noch aus e igener Erfahrung wussten, wie verwirrend es war, zum ersten Mal hierher zu kommen.
    »Ailis«, sagte der Lange Jammrich schließlich, nac h dem er alle begrüßt hatte und sie wieder auf ihren H o ckern saßen, »ich will dir meine Freunde vorstellen.« Sogleich deutete er auf jenen, den er zuletzt umarmt ha t te, und sagte:
    »Springsfeld, der Mann mit den längsten Beinen der Welt.« Der Spielmann sprang vom Stuhl, und tatsächlich, seine Beine waren noch länger und dünner als die Jam m richs. Da der Rest seines Körpers jedoch von gewöhnl i chem Bau war, wirkte er auf groteske Weise verwachsen. Er trug Kleidung in verschiedenen Brauntönen, aus Leder und Leinen, und um seinen Hals baumelte ein Instr u ment, das Ailis nie zuvor gesehen hatte. Es bestand aus zahlreichen Röhrchen, längsseitig aneinander gesetzt, die zur einen Seite hin immer kürzer wurden.
    »Samuel Auf-und-Dahin«, nannte Jammrich den Nächsten am Tisch. Einstmals war er wohl ein blond g e lockter Jüngling gewesen, der mit seinem Saitenspiel zahlreiche Frauenherzen betört hatte. Blond gelockt war er zwar noch immer, doch die Zeiten, in denen sein A n blick die Herzen der Damen hatten höher schlagen la s sen, waren längst vorüber. Ailis schätzte sein Alter auf gut fünfzig Jahre. Sein Gesicht war faltig und wie aus Leder, und um sein rechtes Auge war ein faustgroßer Stern gezeichnet. Er verbeugte sich vor Ailis, nahm ihre Hand und führte sie galant an seine Lippen.
    »Die Brüder Wirrsang und Feinklang«, sagte Jam m rich und wies auf zwei Männer, die sich wie Zwillinge ähnelten, obgleich der eine gewiss zehn Jahre älter war als der andere. Nur seine Falten um Mund- und Auge n winkel unterschieden ihn von seinem Bruder. Beide ha t ten nussbraunes Haar u nd kurz geschnittene Kinnbärte. Ihre Kleidung leuchtete gelb in den unterschiedlichsten Tönen, von dotterfarbenen Westen bis hin zu Beinkle i dern in der Farbe reifer Zitronenschalen. Zwei Handha r fen hingen an Riemen um ihre Stuhllehnen.
    »Sankt Suff«, stellte Jammrich den letzten Mann am Tisch vor. »Keiner erzählt bessere Heiligengeschichten als er. Zumindest, wenn er betrunken ist.« Der Mann lachte dröhnend und wirkte geschmeichelt. Er war ung e mein dick und musste weiter vom Tisch entfernt sitzen als die anderen, weil sein mächtiger Bauch im Wege war. Er ha t te buschige Augenbrauen und einen dichten, woll i gen Vollbart, der ihm bis auf die Brust reichte. Sein Schädel hingegen war vollkommen kahl. Um seinen baumdicken Hals hing ein silbernes Kreuz, so groß wie Ailis’ Hand.
    Buntvogel gab einer Schankmagd ein Zeichen, und bald darauf wurden über die Köpfe der Menge zwei Stü h le heranbalanciert. Nachdem Ailis und Jammrich Platz genommen hatten, schob Sankt Suff ihnen zwei gefüllte Bierhumpen herüber.
    Auch jetzt hatte er immer noch vier davon vor sich stehen. Jammrich trank seinen in zwei Zügen leer, d a nach war sein Gesicht bis über die Wangenknochen mit Schaum bedeckt. Ailis dagegen nippte nur höflich an i h rem Krug, sie hatte Bier noch nie allzu gerne gemocht.
    »Du also bist Ailis«, sagte Springsfeld, der zu

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