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Loreley

Titel: Loreley Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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folgenden Tag habe die Küche Fleischpasteten ang e boten. Ni e mand wagte offen, sie mit der verschwundenen Magd in Verbindung zu bringen, doch hinter vorgehalt e ner Hand munkelte mancher, dass Fleisch an diesem Ort gewiss höchst selten sei. Allerdings mundeten die Past e ten jedermann vorzüglich, abgesehen von dem armen Kerl, der in seiner einen Fußnagel fand. Später hieß es, eine der Köchinnen habe ihn beim Krautstampfen verl o ren. Da der Gasthof der einzige seiner Art war, kümmerte man sich nicht weiter darum. Doch immer dann, wenn ein Gast auf ein Stück Knorpel biss, war irgendwer schnell mit der alten Geschichte zur Hand. Selbst den Halsabschneidern und Weitgereisten lief in solchen M o menten ein Schauder über den Rücken.
    Aus allen Ecken der riesigen Schänke ertönten Musik und Gesang, denn kaum einer war unter den Gästen, der nicht ein Instrument sein eigen nannte. Man sah Mand o linen und Drehleiern, Flöten, Schlagwerk und Cistern, Krum m hörner, Lauten und Sackpfeifen – und die meisten davon trällerten und pfiffen, blökten, brummten und trommelten wahllos durcheinander.
    Als sich die Tür öffnete und ein langer, dürrer Spie l mann in Begleitung eines ju n gen Mädchens eintrat, wandte kaum jemand den Kopf nach ihnen. Hier war ein ständ i ges Kommen und Gehen, und es gab seltsamere Gestalten und wunderlichere Paare als dieses.
    An einem Tisch in der Ecke aber wurde jemand au f merksam. Er unterbrach die G e spräche jener, die mit ihm zechten, und wies mit ausgestrecktem Arm zur Tür. Dann sprang er auf, drängte sich zwischen vollbesetzten T i schen hindurch und eilte den Neuankömmlingen entg e gen.
     
    »Buntvogel!«, rief der Lange Jammrich, als er den Mann erkannte.
    Ailis hörte es kaum. Sie war vollauf damit beschäftigt, die Wunder dieses mer k würdigen Ortes zu bestaunen: den unverhofften Anblick all dieser Menschen, die ebe n so grotesk gekleidet waren wie ihr Begleiter; die Vielzahl der Stimmen und Sprachen und Lieder; die abstoßenden und anziehenden Gerüche; und nicht zuletzt die Tatsache, dass sie sicher war, dies alles hier wirklich zu sehen.
    Es war, als sei inmitten des Tumults, der bis eben noch ihre Sinne überflutet hatte, eine Art Luftblase aufg e taucht, in der all ihre Empfindungen in den üblichen Bahnen verliefen. Sie sah, sie hörte, sie roch. Klare, deu t lich zu unterscheidende Wahrnehmu n gen.
    »Ailis«, sagte der Lange Jammrich und nahm sie bei der Hand, »das hier ist ein g u ter Freund von mir.«
    Der Mann zog seinen spitzen Hut und verbeugte sich tief. Dabei spielte ein Lächeln um seine Mundwinkel, das nicht einmal spöttisch wirkte.
    »Buntvogel nennt man mich hier und anderswo, ju n ges Fräulein«, sagte er. »Und du musst Ailis sein. Wir alle haben schon viel von dir gehört.«
    »Wir alle?«, fragte sie zögernd.
    Buntvogel nickte. »Wir verdienen unser Brot mit G e schichtenerzählen. Und keine Geschichte wird an diesen Tischen derzeit lieber und häufiger erzählt als deine.«
    Er hatte kurze schwarze Locken, und seine Haut war dunkel, fast wie die eines Mohren. Ein Mischling, ve r mutete sie. Er war jünger als der Lange Jammrich, aber immer noch einige Jahre älter als sie selbst. Seine Kle i dung war farbenfroh, und er trug hohe Stiefel, die bis weit über die Knie reichten. Durch jedes seiner Ohren waren mehrere goldene Ringe gezogen, an denen Glitze r steine und winzige Glöckchen baumelten. Sein Lächeln und seine hellgrünen Augen verhießen Freundlichkeit und Witz. Selbst durch die Schleier ihrer Verwirrung wurde Ailis sofort klar, dass sie ihn mochte.
    »Kommt mit«, forderte er sie auf, »die anderen sitzen dort drüben.« Er deutete zu einem großen Tisch, fast voll besetzt, von dem aus ihnen fünf Gesichter neugierig en t gegenblickten.
    Das unharmonische Spiel der Instrumente war ohre n betäubend, wenngleich es an diesem Ort nicht nötig zu sein schien, die Zaubermelodie aufrechtzuerhalten. Die Sac k pfeife des Langen Jammrich hing unbenutzt über seiner Schulter. Als Ailis durch eines der Fenster blickte, sah sie draußen n ichts als Dunkelheit. Waren sie wieder in der wirklichen Welt oder war dieses merkwürdige Gasthaus ein Teil der Spielmannsmagie?
    Während sie sich noch mühsam zu Buntvogels Tisch vorkämpften, rief Jammrich über den Lärm hinweg: »Dieses Wirtshaus steht an einem Kreuzweg mehrerer Spie l mannswege. Früher war es ein ganz gewöhnlicher Gasthof, irgendwo an einem abgel e genen Ort auf den Inseln der

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