Loreley
Rücken an R ü cken standen. Ehe sie noch abwägen konnte, ob das, was sie im Begriff war zu tun, nicht ein schrecklicher Fehler war, entlockte Jammrich der Sackpfeife die ersten Töne, und dann, im nächsten Auge n blick, verlor alles andere an Bedeutung.
Sie waren unterwegs.
4. Kapitel
Was ist das?, fragte Ailis, aber kein Wort drang über ihre Lippen. Um sie war eine Vielzahl von Lichtern und Fa r ben, als reise sie durch einen Tunnel im Herzen des R e genbogens.
Der Lange Jammrich spielte angestrengt auf seiner Sackpfeife, und obwohl das Mundstück des Instruments zwischen seinen Lippen steckte, hörte sie deutlich seine Antwort: Du würdest es nicht verstehen, selbst wenn ich versuchen würde, es dir zu erklären.
Sie wäre wohl abermals wütend geworden, hätte nicht die Flut der tosenden Ei n drücke all ihre Sinne betäubt. Es war schwierig, einen klaren Gedanken zu fassen, und es schien beinahe unmöglich, Worte für ihre Gefühle zu finden.
Du bist verwirrt, ertönte Jammrichs Stimme in ihrem Kopf, das ist immer so beim ersten Mal.
Konnte er ihre Gedanken lesen?
Darauf erhielt sie keine Antwort, und so folgerte sie, dass er es nicht vermochte. Das beruhigte sie ein wenig – soweit man unter diesen Umständen überhaupt von B e ruhigung sprechen konnte.
Sie kam sich vor wie in einem Traum. Nicht wegen dem, was sie empfand, sondern vielmehr aufgrund der Art und Weise, wie sie empfand. Ihre Wahrnehmung war weder eindeutiges Hören noch Sehen, vielmehr eine ve r rückte Mischung aus beidem. Was sie im ersten Moment für Farben gehalten hatte, mochten ebenso gut Töne sein. Es gelang ihr nicht, sich auf einen einzigen Eindruck zu konzentrieren, und sie wusste nicht einmal, ob sie ta t sächlich ihre Augen und Ohren benutzte.
Gewiss, der Lange Jammrich war neben ihr und spielte auf der Sackpfeife. Aber sie war plötzlich nicht mehr so sicher, ob sie ihn tatsächlich sah oder ob sie nicht eher fühlte, dass er da war.
Ja, so mochte es sein: Sie spürte seine Nähe und etwas schuf dazu in ihrem Geist die entsprechenden Bilder. Denn als sie versuchte, ihre Augen zu schließen, da wol l te es ihr nicht gelingen. Sie empfand dabei weder ein Brennen, wie sonst, wenn man sich Mühe gab, den nächsten Wimpernschlag zu unterdrücken, noch bereitete es ihr Sorge. Überhaupt schien alles in ihr, das norm a lerweise Ängste und Widerwillen schuf, wie betäubt. Wahrscheinlich, weil sie sonst vor Furcht längst wahnsinnig geworden wäre, schon im ersten Augenblick, als der Spielmann seine Melodie angestimmt hatte.
Doch ihre Neugier ließ ihr keine Ruhe. Sie musste Fragen stellen, musste Erkläru n gen fordern, auch wenn sie keine Angst empfand.
Sag mir, wo wir sind, forderte sie und war überrascht, dass es ihr plötzlich so müh e los gelang. Sie lernte schnell dazu, und sie fragte sich unwillkürlich, wie viel Zeit de r weil wohl in der wirklichen Welt verging.
Du gibst niemals Ruhe, nicht wahr? entgegnete er, o h ne den Mund zu öffnen. Trotzdem war sein Tonfall nicht ohne Feinheiten; ihr war gar, als höre sie ihn seufzen. Kein Wunder, dass deine Eltern dich zurückgelassen h a ben.
Gibt es irgendetwas, das du nicht über mich weißt?
Verzeih, bat er zu ihrer Überraschung, das war grob.
Also, wo sind wir?
Genau genommen nirgendwo.
Warum nur habe ich geahnt, dass du so etwas sagen würdest?
Er lachte, aber sein Gesicht blieb unbewegt. Es ist die Wahrheit. Wir sind nicht an einem bestimmten Ort, so n dern vielmehr zwischen mehreren.
Sie versuchte, über seine Worte nachzudenken, doch der Wirbel aus Eindrücken, der von überallher auf sie einstürzte, verhinderte das. Erklär’s mir.
Wir bewegen uns, sagte er, auch ohne dass du einen Fuß vor den anderen setzt. Wir befinden uns auf einer Reise, auf einer Art Weg, den die Musik für uns erschafft.
Und?
Dein ewiges › Und?‹ ist eine schlechte Angewohnheit, weißt du das?
Genau der richtige Zeitpunkt, um mich darauf hinz u weisen.
Abermals lachte er, erwiderte aber nichts.
Du hast gesagt, das hier sei kein Ort, fuhr sie fort. Aber auch eine Straße ist ein Ort.
Nicht diese hier. Ich wusste, dass du es nicht verstehen würdest.
Gibt es einen Namen dafür?
Viele, gab er zurück. Wir Musikanten nennen es Spielmannswege. Andere haben andere Namen dafür.
Und wohin führen diese Wege?
An viele Orte. An jeden, den man wünscht – so lange man nicht die Orientierung verliert. Und, glaub mir, es ist leicht, sich hier zu verirren. Leicht und
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