Loreley
Meinung. Es könnte ein Sinn dahinter stecken. Tatsache ist doch, dass manche Kreaturen aus Faerie darauf brennen, uns einen Besuch abzustatten, weil sie es lieben, mit den Menschen ihre gra u samen Scherze zu treiben. Also erfüllte das Echo einigen von ihnen diesen Wunsch. Fortan standen sie in seiner Schuld, und schon hatte es seine ersten Getreuen. Doch Titania zerschlug diesen Plan, als sie das Echo in den Körper von Fees Zwillingsschwester verbannte. Da r aus hat es gewiss eine Lehre gezogen. Denn wer trug die Schuld an dieser Niederlage? Wer hat Titania überhaupt erst zur Hilfe gerufen?«
»Die Gräfin«, sagte Ailis.
»Wir Menschen!«, bestätigte Jammrich. »Ohne uns hätte Titania vielleicht nie b e merkt, was geschehen war. Auch sie hat ihre Augen nicht überall. Das Echo weiß also, dass es uns unterschätzt hat. Heute, da es erneut seine Intrigen spinnt, w ird es seine Fehler von damals nicht wiederholen. Bevor es versuchen kann, Einfluss auf Faerie auszuüben, muss es erst sicherstellen, dass ihm nicht wieder von ein paar eifrigen Menschlein ins Han d werk gepfuscht wird.«
»Dann glaubst du«, sagte Buntvogel, »es wird zuerst versuchen, uns Menschen zu unterjochen?« In seinem dunkelhäutigen Gesicht wirkten seine geweiteten Augen besonders groß und weiß.
Jammrich verzog das Gesicht. »Ich weiß nur, dass ich es an seiner Stelle versuchen würde. Denn wenn es uns Menschen erst in seiner Gewalt hat, dann kann es müh e los das Tor öffnen und alte Wesen von Faerie hereinla s sen. Sie werden hier eine einzige große Spielwiese für ihre bösartigen Streiche und Spaße vorfinden.«
Ailis verstand allmählich, worauf Jammrich hinau s wollte. Das alles mochte noch so verrückt klingen, ta t sächlich aber war es blutiger Ernst. »Aus Dankbarkeit werden diese Kreaturen sich auf die Seite des Echos ste l len«, folgerte sie. »Und wenn es schließlich an ihrer Spitze nach Faerie zieht, wird es Titania mühelos vom Thron fegen.«
»Das Gleiche tun unsere Herren seit jeher«, knurrte Springsfeld. »Versprich dem Volk Wein statt Wasser, und es wird dir überallhin folgen. Wir Menschen und unsere Welt sind der Wein, mit dem das Echo sich seine Gefolgschaft sichert.«
»Früher oder später wird es Hilfe brauchen«, meinte Buntvogel. »Menschliche Hi l fe. Mit seinem Gesang mag es einzelne von uns in seine Gewalt bringen, aber ni e mals ein ganzes Volk. Es wird Statthalter benötigen, Menschen, die es auf seine Seite ziehen kann.«
»Niemand würde solch ein Wesen unterstützen, nicht einmal die gemeinsten Ve r brecher«, sagte Wirrsang überzeugt.
»Ganz im Gegenteil«, widersprach Ailis. »Es würde dem Echo nicht einmal schwer fallen, sie für sich zu g e winnen.«
Jammrich verstand sogleich, wen sie meinte, und auch Buntvogel und Springsfeld nickten erschrocken.
»Wer?«, fragte Sankt Suff, und Samuel Auf-und-Dahin pflichtete bei: »Wen meinst du, Ailis?«
Sie stellte den Becher ab und schaute sich aufmerksam in der Wirtsstube um. Dann sagte sie leise:
»Die Naddred.«
Fee stand am offenen Fenster der Gästekammer und be o bachtete, wie die Sonne über dem Rand der Hochebene aufging. Vogelschwärme erhoben sich aus dem woge n den Grasmeer. Aus der Talsenke, in der sich die Hütten der Schäfer und Bediensteten aneinanderkauerten, sti e gen vereinzelte Rauchfahnen zum Himmel empor. Mo r genkälte wehte ins Turmzimmer, aber Fee spürte sie nicht.
Hinter ihrem Rücken flog die Tür auf, knallte kr a chend gegen die Wand. Ah, dac h te sie, endlich! Sie hatte schon viel früher mit Baans Besuch gerechnet. Er hatte die ganze Nacht auf sich warten lassen. Sie lächelte; er musste über vieles nachgedacht haben. Nun, er hatte g e wiss allen Grund dazu.
Langsam drehte sie sich zu ihm um. Er stand breitbe i nig im Türrahmen, eine Hand gegen die Wand gestützt. Sein Blick funkelte irr, sein langes Haar hing ihm strä h nig über Stirn und Schultern.
»Wo ist dein Schwert, Ritter?«, fragte sie kalt. »Du siehst aus, als wärest du hier, um ein Weib zu schä n den.«
»Spar dir deine Häme, Fee!«, zischte er. »Ich bin nicht hergekommen, um Witze zu machen.«
»Was willst du?«
Einen Augenblick lang wurden seine Züge weich und verletzlich. »Sag mir, was mit dir geschieht«, verlangte er. »Was mit uns geschieht.«
»Du hast mich aus unserer Kammer geworfen. Schon vergessen?«
»Das ist drei Tage her. Seitdem bist du nicht zurüc k gekehrt.«
»Ich hatte nicht das Bedürfnis danach. Seit
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