Loreley
dieser schrecklichen Sache mit deinem Freund, diesem Räube r überfall – «
»Räuber!«, entfuhr es Baan verächtlich. »Es hat in den letzten fünfzig Jahren keine Räuber hier im Hochland gegeben.«
»Wer hat Ortolt und seine Männer dann getötet?«, fragte sie unschuldig. »Vielleicht ich?«
Er tat die Bemerkung mit einer Handbewegung ab. »Ich weiß nicht, warum du dich über diese Sache auch noch lustig machst.«
»Das tue ich nicht«, entgegnete sie und gab sich w ü tend. »Aber du kommst hier herein, mit dem G e sichtsausdruck eines Wahnsinnigen, und man sollte a n nehmen, du hast einen guten Grund dafür.« Sie lehnte sich mit dem Rücken an die Fensterbank. »Ich habe Angst vor dir, Baan.«
»Du vor mir?« Er lachte auf, humorlos, fast hysterisch. »Fee, um Gottes willen, was sollte dieser Auftritt gestern Abend? Wenn es wirklich Ailis war, die du gesehen hast, warum bist du dann nicht zu ihr gegangen?«
»Sie war mit diesen schrecklichen Männern zusa m men. Und sie war auf der Flucht. Sie ist vor mir davong e laufen, nicht ich vor ihr.«
»Und warum? Was weiß sie über dich, Fee? Weshalb fürchtet sie sich vor dir?« Er fuhr sich mit beiden Händen durchs Gesicht, völlig übermüdet und verwirrt. »Her r gott, w a rum fürchte ich mich vor dir?«
Gemächlich setzte sie sich in Bewegung und ging auf ihn zu. Ein Lächeln spielte um ihre Mundwinkel. »Aber du bist doch ein Mann, Baan, und ich nur eine schwache Frau.«
Er zögerte, die Tür hinter sich zu schließen, obwohl sich um diese Zeit außer ihren beiden Leibdienern ni e mand im Turm befand. »Weißt du, was die Alten über dich erzählen?«
Sie blieb zwei Schritte vor ihm stehen. »Dass ich eine Hexe bin?«
»Du hast es schon gehört?«
»Nein«, entgegnete sie kopfschüttelnd. »Aber es g e hört nicht viel dazu, sich das z u sammenzureimen.«
»Sie behaupten, du beschwörst Unglück herauf. Bist mit dem Teufel im Bunde. Sie sagen, du könntest nicht mehr zur Messe gehen, weil sich sonst der Boden der Kapelle unter dir auftun und dich in die Hölle reißen würde.«
»O«, meinte Fee und erzitterte gekünstelt, »heißt das, sie wollen mich auf den Scheiterhaufen stellen?«
»Glaubst du immer noch, dies sei die Zeit für Sche r ze?«
Sie trat vor ihn und ergriff seine Hände. »Dann traust auch du mir nicht mehr?«, fragte sie sanft.
Er schüttelte ihre Hände ab, ging an ihr vorbei und blieb erst am offenen Fenster stehen. »Ich weiß es nicht, Fee. Ich weiß nicht, was ich denken soll. Die Sache mit dem Einsiedler – «
Sie unterbrach ihn scharf, ihr Blick war finster. »Das habe ich dir schon ein dutzend Mal erklärt! Du bist g e stürzt, mit dem Kopf aufgeschlagen und hast dir diese ganze Geschichte eingebildet. Ich habe keine Schäfer gesehen, und ganz bestimmt keinen alten Einsiedler. Li e be Güte, wie kannst d u nur glauben, ich könnte mit e i nem Greis solche Dinge tun?«
Seine Hand fuhr hinauf zu der Abschürfung an seinem Hinterkopf. Er hatte sie dort vorgefunden, als er in den Felsen am Rande der Quelle wieder zu sich gekommen war. Fee hatte sich über ihn gebeugt und ihm zärtlich das Blut abgetupft.
Jetzt griff er fröstelnd nach dem Fenster und verriege l te es. »Ich … es tut mir Leid, Fee«, brachte er mühsam hervor. »Aber all diese Dinge … ich meine, irgendetwas geht hier vor. Und es hat etwas mit dir zu tun.«
»Würdest du dich besser fühlen, wenn ich die Leute beruhigen könnte?«
»Es geht nicht nur um die Leute.«
»Aber auch um sie.«
»Sicher.«
»Was soll ich tun? Vor ihren Augen einen Eimer Weihwasser trinken?«
»Du machst dich schon wieder darüber lustig.«
»Entschuldige.« Sie ging zu ihm und strich ihm die dunklen Haarsträhnen aus dem Gesicht. »Was hältst du davon? Lade diesen Einsiedler ein, heute Abend eine Messe zu lesen. Sag ihm und allen Leuten, du möchtest deines Freundes Ortolt und seiner Mä n nern gedenken. Befiehl allen, anwesend zu sein. Ohne Ausnahme. Auch ich werde an der Messe teilnehmen, vom Anfang bis zum Ende. Ich werde beten und fromme Lieder singen. Glaubst du, das würde den Gerüchten ein Ende setzen?«
Er sah ihr in die Augen und plötzlich lächelte er tra u rig. »Es wäre immerhin ein g u ter Anfang. Willst du das wirklich tun?«
Sie nickte ernsthaft. »Natürlich. Für dich.«
»Für uns«, sagte er, beugte sich vor und küsste sie zärtlich.
Ja, dachte sie, für uns.
Baan blieb bei ihr, bis die Sonne eine Handbreit über dem Horizont
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