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Loreley

Titel: Loreley Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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stand. Danach schwor er ihr, dass er sie liebe, und sie erwiderte den Schwur. Als er ging, um e i nen Boten zum Einsiedler zu schicken, schaute sie ihm lange nach, auch noch, als er längst die Tür hinter sich geschlossen hatte.
    Natürlich wusste Fee genau, was er am Abend getan hatte. Als er zur Quelle gekommen war und sie übe r rascht hatte, hatte sie ihn gefragt, ob eine Frau unter den Spielleuten sei. Er hatte das verneint. Später, nach der Flucht der Gefangenen, hatte sie ihn zur Rede gestellt. Baan hatte behauptet, sich die Spielleute nicht genau a n geschaut zu haben, und immerhin sähe Ailis mit ihrem Stoppelhaar und dem drahtigen Körper ausgesprochen männlich aus. Doch Fee hielt ihn nicht für so einfältig, den Unterschied zu übersehen. Baan hatte die Gefang e nen einsperren lassen, damit sie ihr nicht begegn e ten, und später, als es dunkel war, hatte er sie befreit und en t kommen lassen. Mochte er es auch noch so oft abstreiten, sie wusste, dass es so gewesen war.
    Was die Messe anging, so bereitete sie ihr keine So r gen. Gewiss, Kirchen und K a pellen galten nicht umsonst als sichere Zuflucht vor den Wesen von Faerie. Was die meisten Menschen jedoch nicht ahnten, war die Tatsache, dass nicht das Gotteshaus selbst die Gefahr darstellte – vielmehr war es dem Volk der Feen verboten, das Portal der Kirche zu durchschreiten. Was dahinter lag, spielte keine Rolle, es war so wenig ein Teil des Christengottes wie alles andere auf dieser Welt. Die Schwelle aber stel l te eine unüberwindliche Grenze dar. Hier ließen die Menschen den Glauben an die a lten Götter zurück, und, schlimmer noch, ihre Furcht vor den Kreaturen der Nacht. Einen kurzen Augenblick lang streiften sie ihr Vertrauen in alles Übersinnliche ab, bevor sie sich, je n seits der Schwelle, einer anderen Seite des Übernatürl i chen hingaben, dem Glauben an ihren einzigen, lächerl i chen Gott. Auf diesem winzigen Stück, genau unter dem Torbogen, konnte nichts existieren, das nichtmenschlich war.
    Freilich gab es eine Lösung, und es gab sie in den gr o ßen Kathedralen ebenso wie in der Kapelle am Fuße des Turms. Nach dem Glauben der Druiden und alten Völker, lange bevor das Christentum Verbreitung fand, war der Norden die Richtung der Macht. Im Norden stand das Sternbild des Drachen am Himmel, und der Drache war seit jeher der Wächter der Weisheit und der Mysterien. Nachts zuckten rätselhafte Lichter über den nördlichen Horizont, und nirgends hatten die alten Kulte länger for t bestanden als in den wilden Ländern des Nordens.
    Daher besaß jedes Gotteshaus an seiner Nordseite e i nen zweiten Zugang. Meist handelte es sich um einen schmalen Seiteneingang oder eine unscheinbare Hinte r tür. Aber sie war da, war es immer. Durch sie war es den Wesen von Faerie gestattet, die Kirchen zu betreten. Fee wusste nicht, wer dieses Gesetz aufgestellt hatte; wah r scheinlich war es ein Zeichen des Respekts der Baumei s ter vor Mächten, die sie nicht verstanden, ein Zugestän d nis, um sich während der Bauarbeiten vor Unfällen und Missgesch i cken zu schützen – ein Opfer.
    Häufig schmückten kleine, halb verborgene Reliefe die Pfosten dieser Türen, A b bildungen der vergessenen Götter, aus einer Zeit, als das Symbol des Gehörnten noch Hoffnung, nicht Verdammnis versprach.
    Diese Tür war es, durch die Fee am Abend die Kapelle betrat.
    Baan erwartete sie bereits, er war der erste Besucher. Sie kniete neben ihm auf der reich verzierten Gebetbank nieder, die seit Jahrzehnten den Mitgliedern der Familie zustand. Allmählich strömten auch Diener und Leibeig e ne herein, und obwohl Fee ihnen den Rücken zuwandte, demütig vorgebeugt und mit gefalteten Händen, spürte sie die Blicke der Menschen in ihrem Nacken wie gl ü hende Eisen. Sie hatte ihr Haar zu einem züchtigen Kn o ten gebunden und am Hinterkopf aufgesteckt. Ihr Kleid war schlicht, der Kragen hoch und eng geknöpft. Es gab nichts an ihr, das hätte Anstoß erregen können – schlie ß lich konnte niemand in ihren Kopf blicken und ihre G e danken lesen.
    Ihr Triumph ließ sich nicht mehr überbieten, als eine alte Frau vor sie trat, ihren Daumen am Docht einer Ke r ze rieb und mit rußiger Fingerspitze ein kleines Kreuz auf Fees Stirn zeichnete. In stillschweigender Überei n kunft sprachen sie gemeinsam ein Gebet. Die Frau l ä chelte ihr zu und zog sich in die hinteren Reihen zurück.
    Baan stieß sie zaghaft mit dem Ellbogen an. Als sie ihn ansah, lächelte er

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