Loreley
die Stufen herab!
In einem Anflug von Panik löste sie sich von Baan und huschte durch den Türspalt ins Freie. Der Ritter set z te ihr zwei Schritte weit nach, aber da war sie schon die Stufen an der Außenseite hinabgesprungen und rannte so schnell sie konnte über den Vorplatz.
Die Spielleute blickten ihr ungeduldig entgegen, Jammrich gestikulierte aufg e bracht. Alle hatten bereits ihre Instrumente angesetzt und warteten darauf, dass A i lis sie endlich erreichte. Niemand verschwendete auch nur einen Gedanken an das geheime Gesetz, die Spie l mannswege niemals vor den Augen Uneingeweihter zu öffnen. Alle spürten, dass es in diesem Moment um ihr Leben ging.
Hinter sich hörte Ailis Baans Stimme. »Fee!«, entfuhr es ihm überrascht.
Ailis blieb auf halber Strecke zwischen der Tür und den Spielleuten stehen. Sie fuhr herum, ihr Blick raste zurück zum Turm.
Ein heller Schemen stand im Dunkel hinter dem Tü r spalt. Eine zierliche Gestalt in weißem Nachtgewand.
»Die Gefangenen fliehen!«, schrie Baan erregt, und Ailis hatte den Eindruck, dass sein Entsetzen nicht g e spielt war – nur, dass nicht ihre Flucht seine Panik he r vorrief.
Die Tür wurde weiter aufgerissen.
»Ailis!«, brüllte Jammrich, und die anderen fielen mit ein. Jemand spielte die ersten Töne auf einer Harfe, Wirrsang oder Feinklang.
»Ailis, komm her, verflucht!«, schrie Buntvogel.
Aber Ailis konnte nur wie betäubt zum Eingang des Turmes starren.
Fee stand reglos im Türrahmen. Ihr Gewand flatterte im Wind. Sie trug nichts darunter und ihre Haut war u n natürlich weiß. Ihr langes goldenes Haar wurde von e i nem Windstoß emporgewirbelt, tobte wie ein Fächer um ihr Haupt.
Sie lächelte.
Lächelte mit solchem Liebreiz, dass Ailis alles andere zu vergessen drohte.
Jammrich schrie erneut ihren Namen, während ein zweites Instrument die Melodie der Harfe aufnahm. Springsfelds Panflöte.
Fee streckte einen Arm aus und winkte Ailis heran. Noch immer sagte sie kein Wort.
Baan war fort, aber einen Augenblick später ertönte von der Spitze des Turms eine mächtige Glocke. Der Ri t ter gab Alarm! Er hatte nicht gelogen, als er sagte, er würde sie kein zweites Mal retten.
Es war zu absurd: Baan war der Herr dieses Anw e sens, ein Ritter des Königs noch dazu, und doch tat er alles, um seine Befreiung der Gefangenen zu verschle i ern!
Ailis machte schlafwandlerisch einen Schritt zurück in Richtung des Turmes.
Fee öffnete die Lippen und begann zu singen.
Ein Arm legte sich von hinten um Ailis’ Brustkorb, riss sie heftig zurück. Buntv o gel!
Im nächsten Augenblick klärte sich ihr Denken. Sie rannte los, an Buntvogels Seite, und die Melodie quoll ihr entgegen wie eine Flüssigkeit, die ihre Ohren gegen jedes andere Geräusch versiegelte.
Einmal noch schaute sie über die Schulter zurück, sah, dass Fee plötzlich zurüc k schrak, das Gesicht verzerrt, als hätte sie Angst vor irgendetwas. Ihr Mund war immer noch aufgerissen, aber kein Ton drang hervor.
Dann stolperten Ailis und Buntvogel in den Pulk der Gaukler, Klänge und Farben brachen über sie herein, und d ie Spielmannswege saugten sie hinweg an einen sich e ren Ort.
Das Wirtshaus im Netz der Spielmannswege war heute nicht so überfüllt wie bei Ailis’ erstem Besuch. Zwar waren die meisten Tische besetzt, aber an manchen saßen nur vereinzelte Spielleute, löffelten schweigend ihren Eintopf oder tranken Bier. Auch die Schankmägde wir k ten heute gelassener, sogar fröhlich. Als sie Ailis b e merkten, läche l ten sie freundlich; junge Mädchen kamen nicht oft hierher.
Vor Ailis auf dem Tisch stand ein tönerner Becher, den Sankt Suff nun schon zum dritten Mal mit Brann t wein füllte.
Jammrich schob das Gesöff aus Ailis’ Reichweite. »Lass das!«, fuhr er den fetten Spielmann an, der gri n send und mit einem Schulterzucken zurück auf seinen Platz sank.
Ailis protestierte nicht. Derzeit war es ihr gleichgültig, ob Jammrich sie bevormu n dete. Die beiden Becher, die sie bisher leer getrunken hatte, waren für sie die ersten überhaupt gewesen und sie spürte überdeutlich die Wi r kung des scharfen Trunks. Ihr war glühend heiß, sie schwitzte. Auch fiel es ihr immer schwerer, mit Worten auszudrücken, was in ihr vorging. Eigentlich war sie da r über ganz froh. Mochten die anderen noch so sehr au f einander einreden und versuchen, das Erlebte in allen Einzelheiten zu besprechen – Ailis hatte kein Bedürfnis danach.
Sie wollte nur ihre Ruhe.
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