Loreley
tun.
Es war bereits spät am Nachmittag, als sie hinaus auf den Burghof eilte und durch das bewachte Haupttor lief. Ihre Zweifel unterdrückte sie ebenso wie ihr schlechtes Gewissen. Sie wollte endlich die Wahrheit herausfinden. Oder wenigstens jenen Teil davon, der bereit war, sich ihr zu offenbaren.
Es regnete immer noch ununterbrochen, doch über den Bergkuppen war die Wolkendecke aufgerissen und ge s tattete der Sonne, Abschied zu nehmen. Der rotgelbe Glutball stand eine Handbreit über den Baumwipfeln und verwandelte den Weg zum Dorf in einen Strom aus flü s sigem Gold. Tatsächlich ergoss sich zwischen den erhö h ten Wegrändern ein Sturzbach aus Regenwasser talwärts, an manchen Stellen so hoch wie Ailis’ Knöchel. Immer wieder lief sie Gefahr auszurutschen, doch schließlich kam sie wohlbehalten unten an. Sie eilte zwischen den Häusern hindurch zum Ufer und von dort aus zur Anl e gestelle der Fähre.
Der Fährmann war ein junger Kerl, der den Posten erst vor wenigen Monden von seinem Großvater überno m men hatte. Der Graf hatte angeordnet, dass zu jeder T a ges- und Nachtzeit jemand bereitstehen musste, um Re i senden den Übergang zu ermöglichen. Sogar bei schlec h tem Wetter harrte der Fährmann in einem hölzernen U n terstand aus, frierend über ein Feuer gebeugt und wah r scheinlich mit allerlei Flüchen auf den Herrn Grafen im Sinn. Er erschrak, als Ailis aus dem Regen trat und ihm mit ausg e streckter Hand die Münze entgegenhielt. »Bring’ mich zur anderen Seite«, verlangte sie kühl.
Der junge Mann musterte sie argwöhnisch, ließ sich dann aber von dem Lohn in ihrer Hand überzeugen. W e nig später schon befanden sie sich auf dem Fluss und glitten über die regengepeitschte Oberfläche dem Ostufer des Rheins entgegen. Ein Stück weiter südlich, genau am Fuß des Lurlinberges, schlug der Fluss einen scharfen Haken. Die Stromschnellen, die dort tobten, galten als die gefährlichsten weit und breit. Die meisten Boote und Flöße, die ihre Waren den Strom hinabbrachten, wurden kurz vorher entladen. Karren kutschierten die Fracht auf dem Landweg zur anderen Seite des Berges, wo sie e r neut auf die Schiffe geschafft wurde – vorausgesetzt, sie hatten die Stromschnellen und Strudel unbeschadet b e wältigt. Nicht selten wurden u n vorsichtige Flößer und Bootsleute in die Tiefe gerissen und tauchten nie wieder auf. »Die Flussjungfern holen sie«, erzählten sich die Alten, und kaum einer stellte die Geschichten infrage.
Nachdem die Fähre die andere Seite erreicht hatte, bat Ailis den jungen Mann, hier auf sie zu warten. Ihm solle es recht sein, meinte er gleichgültig; bei diesem Wetter würden seine Dienste wohl weder an diesem noch am gegenüberliegenden Ufer ben ö tigt. Damit zog er sich in einen zweiten Unterstand zurück, der dem auf der Wes t seite aufs Brett genau glich.
Ailis ließ den Jungen zurück, kletterte durch Weinbe r ge und Laubhaine, bis sich der Kamm des Lurlinberges über ihr aus dem Regendämmer schälte. Die untergehe n de Sonne beschien seine Kante entlang einer hauchdü n nen Linie, darüber stand ein mäc h tiger Regenbogen. Doch nicht einmal dieser Anblick vermochte Ailis’ Stimmung zu heben.
Der Lurlinberg hatte die Form eines umgedrehten Schiffsrumpfes, ähnlich wie die Ruderboote, welche die Fischer abends an Land zogen und kopfüber ins Ufergras legten, damit sich kein Regen darin fing. Das Bergpl a teau wirkte aus der Ferne vollkommen eben. Seine wes t lichste Spitze thronte hoch über der Flusskehre und den Stromschnellen. Dort, gleich oberhalb einer steilen Fe l senböschung, mehr als sechzig Mann s längen hoch, hatte einst die Wehranlage gestanden, in deren Ruinen der Graf und seine Männer das Mädchen eingesperrt hatten.
Ailis brauchte länger als sie erwartet hatte, um dorthin zu gelangen. Der Regen ha t te die Hänge aufgeweicht, an vielen Stellen ergossen sich breite Rinnsale in die Tiefe. Schließlich aber kam sie oben an, und wenig später sah sie vor sich im Abenddunkel die Mauerreste der uralten Festung. Wer sie einst erbaut hatte, war längst vergessen, geblieben waren nur einige Steinreihen und verfallene Fundamente.
Die Wolken hingen schwer und müde über den Ru i nen. Aus dem Abgrund drang das Gurgeln und Tosen der Flusskehre herauf wie das bedrohliche Brummen eines heranjagenden Bienenschwarms. Ailis fröstelte beim A n blick dieses verlassenen, be i nahe vergessenen Ortes. Die sonderbare Stimmung übertrug sich auch auf das,
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