Loreley
Brunne n schachtes.
Ailis blieb stehen. Vielleicht hatte sie sich getäuscht. Wind und Regen mochten ihr etwas vorgaukeln. Die Wachtposten auf den Türmen sprachen manchmal davon, dass der Wind ihnen Worte zuflüsterte, Aufforderungen, sich über die Zinnen in die Tiefe zu stürzen.
»Es ist schön, dass du hier bist«, sagte die Stimme. Es gab keinen Zweifel, dass sie einem Kind gehörte. Einem Mädchen. »Ich dachte schon, du würdest überhaupt nicht mehr kommen.«
Ailis wagte sich noch weiter vor, bis ihre Knie fast g e gen die äußeren Stacheln stießen. Wenn sie sich ein w e nig weiter vorbeugte, würde sie durch das Gewirr der Stahlstreben hinab in den Brunnen blicken können. Nur ein wenig weiter vorbeugen.
»Vorsicht«, sagte die Stimme eilig. »Sonst tust du dir weh.«
Ailis schrak zurück, als hätte jemand sie aus einem Albtraum geweckt. Sie war drauf und dran gewesen, sich über die tödlichen Spitzen zu beugen. Die Warnung des Mädchens hatte ihr wahrscheinlich das Leben gerettet.
Was war nur los mit ihr? Sie war doch sonst nicht so leichtsinnig.
»Du musst nur um das Gitter herumgehen«, raunte das Mädchen aus der Finsternis herauf, »dann kannst du mich sehen.«
Ailis machte einige Schritte entlang der mörderischen Spitzen, bis sie auf der and e ren Seite des Brunnenrandes stand. Sie befand sich jetzt auf der äußersten Spitze des Lurlinberges, drei Mannslängen hinter ihr klaffte der A b grund des Rheintals. Ihre Kleidung war von der Nässe so schwer geworden, dass es dem Wind nicht mehr gelang, sie zu zerzausen. Der Stoff ihres Wams’ klebte kalt an ihrem Körper und in einem Augenblick, der nicht so ernst wie dieser gewesen wäre, hätte sie wohl niesen müssen.
Das Mädchen sah genauso aus wie vor einem Jahr, als es sie am Waldrand um Hilfe angefleht hatte. Es trug di e selben Lumpen und sein hübsches Gesicht war ebenso schmutzig, obgleich der Regen ein paar weiße Bahnen hineingewaschen hatte. Das lange weißblonde Haar kle b te klatschnass an Kopf und Schultern, und seine Augen waren gerötet, als hätte es erst vor kurzem geweint. Ailis musste zweimal hinsehen, um zu erkennen, dass das Mädchen auf einem Felsvorsprung in der Brunnenwand saß, zu schmal für einen Erwachsenen, aber für die Kle i ne breit genug. Das Mädchen ließ seine dünnen Beinchen frei über dem schwarzen Schacht baumeln. Ailis sah, dass es nur noch einen Schuh trug, eigentlich nur ein grober Lederwickel; den anderen hatte es verloren.
»Du bist noch hier«, stellte Ailis fest und kam sich d a bei ziemlich unbeholfen vor.
»Wie du siehst«, gab das Mädchen zurück und sah d a bei fast ein wenig fassungslos aus. »Wohin hätte ich denn auch gehen sollen?«
Du hättest sterben sollen, dachte Ailis, aber sie sagte nur: »Du hast Recht. Es tut mir Leid.«
Das Mädchen nickte übertrieben, eine Kindergeste. »Natürlich habe ich recht. Ich kenne mich ziemlich gut aus hier unten. Es gibt nichts, wo man hingehen könnte. Außer vielleicht zum Teufel.« Und sie kicherte, dass es Ailis eiskalt den Rücken herablief.
»Würdest du mir einen Gefallen tun?«, fuhr das Mä d chen fort. »Das wäre wirklich sehr nett von dir.«
»Was für einen Gefallen?«
»Mir ist kalt, und ich bin nass«, sagte das Mädchen. »Könntest du wohl versuchen, das Gitter aufzumachen?«
Der Graf hatte Ailis verboten, über das, was sie mita n gesehen hatte, zu sprechen. Aber hatte er ihr auch unte r sagt, das Gitter zu öffnen? Nein. Im Grunde sprach also nichts dagegen. Abgesehen davon, dass sie sich bei dem Versuch möglicherweise auf einer der Spitzen aufspi e ßen würde wie ein Insekt im Stachelpelz eines Igels. Und abgesehen davon, dass sie nicht sicher war, ob sie das Gitter überhaupt öffnen wollte.
Denn sie hatte, trotz des seltsamen Zustands, in dem sie sich befand, entsetzliche Angst. Wovor, hätte sie nicht zu sagen vermocht. Gewiss nicht vor einem kleinen Mädchen, kaum halb so groß wie sie selbst.
Die Kleine bemerkte, dass Ailis zögerte, und zeigte mit ausgestrecktem Finger durch das Gewirr der Gitte r streben. »Versuch’s mal da vorne. Dort stehen die Spi t zen nicht ganz so eng beieinander.«
Ailis tat widerwillig, was das Mädchen verlangte und beugte sich vorsichtig vor, um die Stelle zu betrachten. Was sie dort sah, ließ sie insgeheim aufatmen. »Da ist ein Schloss«, sagte sie zu dem Mädchen. »Ein großes Vo r hängeschloss. Schwierig zu bauen. Ich habe einmal ges e hen, wie unser Schmied eines gemacht
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