Loreley
kaum gla u ben, dass sie die Frage doch noch zu Stande brachte. Triumphierend setzte sie hinzu: »Vielleicht hast du es ja verdient.«
Das kleine Mädchen fletschte die Zähne. »Ich könnte dein Herz essen.«
»Dafür müsstest du dich erst durch das Gitter beißen.« Ihr eigener Wille kehrte al l mählich zurück, Schritt für Schritt, ganz langsam. Die Nebel in ihrem Kopf rissen auseinander.
»Ailis!« Die Augen der Kleinen waren schwarz wie Kohlestücke. »Stiehl ihn!«
»Wenn jemand herausfindet, dass ich es war, würde man mich zu dir in dieses Loch werfen. Damit wäre ke i nem geholfen.«
»Du musst geschickt sein. Du musst sein wie die Nacht, still und kühl und dunkel, damit niemand dich erkennt.«
»Ich bin nicht geschickt. Erland sagt, ich hätte zehn Daumen.«
»Ich töte ihn für dich, wenn du willst. Aber erst muss ich hier raus.«
»Nein!«Ihre Empörung fühlte sich an wie ein schmerzhafter Schlag vor die Brust. Erland töten? Was, zum Teufel, geschah hier? Sie versuchte verzweifelt, sich zusa m menzureißen, doch mit jedem pulsierenden Schub aus Wut und Zorn, d er in ihr aufstieg, verdichtete sich wieder der Schleier in ihrem Kopf.
»Stiehl – den – Schlüssel!«, kam es betont aus dem Mund der Kleinen. Sie hatte sehr rote Lippen, fand Ailis. Sehr rot, sehr schön.
»Ich würde dir gerne einen Kuss geben«, sagte Ailis benommen. Sie träumte, mus s te träumen.
Das Mädchen nickte verständnisvoll. »So oft, wie du magst. Aber hol mich hier heraus.«
»Ich kann nicht.«
Rote Lippen, zu einem kindlichen Lächeln verzogen. »Du willst mich küssen? Du magst mich, nicht wahr? Weil ich das Leben bin. Du magst das Leben, oder? Du liebst das Leben, und du liebst mich. Du darfst mich i m mer, immer, immer lieben.« Rote Lippen, leicht geöffnet, dahinter glänzend weiße Zähne. Kinderzähne. Milchzä h ne. »Stiehl den Schlüssel, Ailis!«
Doch Ailis sagte: »Nein.«
Dann lief sie los, um das Gitter herum, über das dun k le Bergplateau, ganz allein im Regen.
Niemand hielt sie auf.
3. Kapitel
Vier Tage nach der Begegnung auf dem Berg entdeckte Ailis den Schlüssel. Sie war nicht ganz sicher, ob es wirklich der richtige war. Er war groß, länger als ihre Hand, mit einem Metallbart, der sonderbare, geschwu n gene Zacken aufwies. Sie sahen aus wie halbierte Runen und Ailis fragte sich, ob die anderen Hälften wohl im Inneren des Schlosses verborgen waren, sodass sie sich beim Einstecken und Umdrehen des Schlü s sels zu einem kompletten Satz von Zeichen zusammenfügten, einem magischen Wort, einem Zauberspruch.
Der Schlüssel lag in einer hölzernen Schachtel, die versteckt auf einem der oberen Dachbalken der Schmiede stand. Ailis war nur durch Zufall auf die kleine Kiste g e stoßen, als sich ein Vogel durch das offene Tor in die Werkstatt verirrt hatte und sie versucht hatte, ihn hinau s zujagen. Sie war hinauf in das Gewirr der Balken gekle t tert und hätte die Schachte] dabei versehentlich fast in die Tiefe gestoßen. Ailis hatte sich vers i chert, dass der Schmied gerade nicht hinsah, dann hatte sie den Deckel geöffnet.
Der Schlüssel ruhte nicht auf einem Brokatkissen, wie sie beinahe erwartet hatte, sondern war achtlos in die le e re Kiste geworfen worden, so als sei Erland froh gew e sen, ihn aus der Hand zu geben. Ailis widerstand der Versuchung, ihn herauszunehmen, klappte stattdessen den Deckel wieder zu, s tellte die Schachtel sorgfältig an ihren von Staub umrahmten Platz auf dem Balken zurück und setzte die Jagd nach dem Vogel fort.
Am Abend aber spürte sie in sich ein seltsames Zi e hen, fast wie ein starkes Hu n gergefühl, nur dass es nicht allein in ihrem Bauch, sondern auch in ihrer Brust und, seltsamer noch, in ihrem Kopf rumorte. Sie wusste s o fort, woran es lag, und sie kannte das einzige Heilmittel. Ihr war, als könnte sie die Fäden sehen, die sich aus ihrer Stirn bis zu den Fingerspitzen des Mädchens auf dem Lurlinberg spannten.
Ailis’ Kammer im Weiberhaus der Burg war klein, kaum groß genug für ihr Bett und die Kleiderkiste. Sie lebte hier, so lange sie sich erinnern konnte. Ihre Ehern hatten ein Zimmer in einem der Nebengebäude des Haupthauses bewohnt, und Ailis hatte von klein an g e trennt von ihnen geschlafen. Sie war immer Fees engste Freundin gewesen und das war wohl der Grund gewesen, weshalb man ihr eine Kammer in unmittelbarer Nähe des Grafenmündels zugestanden hatte. Sie und Fee waren wie Schwestern beha n delt worden und
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