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Loreley

Titel: Loreley Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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Vergünstigungen wie die eines eigenen Gemachs hatte es viele geg e ben. So hatte Ailis an Feiertagen nicht mit den Bediensteten und ihren Eltern essen müssen, sondern war an die Tafel des Grafen, an Fees Seite, geladen worden; ihr Vater ha t te ihr das nie verzeihen können.
    Allerdings hatten die Bevorzugungen mit dem Streit zwischen ihr und Fee schlaga r tig ein Ende genommen, allein das eigene Zimmer war Ailis geblieben. Sie wu n derte sich, dass man sie nicht längst hinausgeworfen ha t te. Manchmal vermutete sie, dass Fees Fürsprache dafür verantwortlich war, aber meist verwarf sie diesen Geda n ken geschwind. Sie gestand sich ungern ein, dass die ehemalige Freundin sich während ihres ganzen Zwists stets anständiger verhalten hatte a ls sie selbst. Ailis has s te es, ihre eigenen Fehler einzugestehen, und lieber sah sie hastig darüber hinweg. Sie fand, das machte das L e ben erträglicher.
    An jenem Abend nun schlüpfte sie aus ihrer Kammer, huschte über die Flure und Treppen des Weiberhauses und eilte über den Burghof zur Schmiede. Erland schlief in einem Gelass an der Rückseite seiner Werkstatt, hinter einem schweren Vorhang. Diebe fürchteten seine mäc h tigen Fäuste, und so verzichtete er darauf, des Nachts die Tür zu verriegeln. Ailis dagegen hatte keine Angst vor Erlands Schlägen; vielmehr ängstigte sie der Gedanke an die Enttäuschung im Gesicht des Schmiedes, falls er b e merken würde, weshalb sie hergekommen war.
    So leise sie konnte drückte sie den Eingang einen Spaltbreit auf und schob sich ins Innere der Werkstatt. Sie hatte gehofft, Erland hinter dem Vorhang schnarchen zu hören, doch der Schlaf des Schmiedes war ruhig und lautlos. Auch konnte sie ihn nicht sehen, und die Vorste l lung, dass er aufrecht hinter dem Vorhang stand und auf jeden ihrer Schritte lauschte, hätte sie beinahe in die Flucht geschlagen. Dann aber spürte sie wieder den Ruf des kleinen Mädchens – sie glaubte ihn jetzt tatsächlich zu hören, wie fernen, säuselnden Gesang –, und sie wus s te, dass sie nicht mehr zurück konnte.
    Von einem der Tische aus packte sie die Kante eines tiefen Deckenbalkens, zog sich mühsam hinauf, kletterte weiter. Augenblicke später kauerte sie vor der Schachtel und legte zaghaft beide Hände an den Deckel. Zwei Mannslängen unter ihr schimmerte noch ein Rest Glut in der Esse, ein rotes Funkeln und Blitzen inmitten der Dunkelheit, wie ein Einstieg zur Hölle. Der Rauch des Feuers, das den Tag über dort unten gebrannt hatte, hing immer noch in der Luft, geisterhafte Schwaden, die sich unter dem Dach verfangen hatten. Auf den Balken hatte sich Ruß abgelagert und hinterließ schwarze Spuren an Ailis’ Händen und Kleidung, als hätten sich die Scha t ten wie Sühnemale in ihren Leib gebrannt; falls Erland sie später am Boden erwischen würde, würde er sofort wi s sen, wo sie sich herumgetrieben hatte. Es würde schwer sein, dann noch eine ve r nünftige Erklärung zu finden.
    Vorsichtig hoben ihre Finger den Deckel der Schac h tel. Der Schlüssel lag unve r sehrt in der Finsternis. Ailis konnte ihn kaum erkennen, so dunkel war es hier oben. Zögernd tastete sie danach. Er fühlte sich kühl an.
    Ein scharfes Rascheln ertönte. Ailis wagte nicht, den Kopf zu senken, rollte nur mit den Augen, um einen Blick auf Er-ands Gelass zu erhaschen. Scharrend glitt der Vo r hang auf seiner Holzstange zur Seite. Erlands Hand schälte sich aus den Schatten, sein Arm, dann der ganze Mann. Er trat in die Werkstatt, ging an der flirre n den Esse vorbei und blieb vor einem Holzkübel mit kl a rem Wasser stehen. Er beugte sich vor, tauchte sein G e sicht unter die Oberfläche. Einige zähe Augenblicke lang blieb er unter Wasser. Dann riss der Schmied seinen Schädel zurück, gefolgt von einem Schweif glitzernder Wassertropfen. Er rieb sich durch die Augen, trank dann noch einen Schluck und schleppte sich mit müden Schri t ten zurück zum Vorhang.
    Bevor er aber hindurchtreten konnte, zögerte er plöt z lich. Ailis dachte, sie müsste auf der Stelle zu Eis gefri e ren. Doch Erland schaute nicht zu ihr empor, blickte vie l mehr hinüber zur Tür. Und Ailis begriff schlagartig, we l chen Fehler sie gemacht hatte: Der Türflügel stand i m mer noch einen Spaltbreit offen, sie hatte nicht daran g e dacht, ihn hinter sich zuzuziehen. Erland ging zum Ei n gang, jetzt deutlich schneller, und schaute hinaus. Ailis konnte ihr Glück kaum fassen, a ls er auf dem Hof ta t sächlich etwas Verdächtiges

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