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Loreley

Titel: Loreley Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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was ihr eben noch vertraut gewesen war: das andere Ufer und die Wälder und Wiesen nahe Burg Rheinfels, die von hier aus fremd und unnahbar erschienen. Noch stand ein schmaler Sonnenstreif darüber, blutrot und vom Regen eingenebelt. Der letzte Hauch dieser Glut reichte über den Rhein hinweg bis zu den überwucherten Steinen und Gruben der Wehranlage, ließ Pfützen und sogar den fa l lenden Niederschlag erglühen, sodass es aussah, als re g neten die Sterne selbst vom Himmel. Krumme Bau m stämme mit knotigen Zweigen erhoben sich als schwarze Silhouetten vor dem Rot des Abends, verästelte Risse, die sich im Panorama des vergehenden Tages auftaten, um dahinter die anrückende Nacht zu offenbaren.
    Gut hundertfünfzig Schritte vor der steilen Zunge n spitze des Lurlinberges verrieten Form und Streuung der Mauerreste, dass hier einst ein kleines Dorf gestanden hatte. Jenseits davon, nach etwa hundert Schritten, stieg das Gelände leicht an und bildete einen kleinen Wall, der von Norden nach Süden quer über das Bergplateau ve r lief. Darauf musste einst eine Verteidigungsmauer g e standen haben, von der nichts geblieben war bis auf ein i ge Steinzeilen, unregelmäßig und zerklüftet wie ein Greisengebiss. Dahinter hatte sich der eigentliche Kern der Anlage befunden, wohl eine Art Fluch t burg, denn hier lagen die gemauerten Fu n damente besonders eng beieinander; zudem bot sich hier an klaren Tagen ein hervorragender Blick über das Rheintal, sodass die Wachtposten mögliche Feinde schon von weitem hatten erkennen können. Nesseln, Dornenranken und hohes Gras gediehen prächtig zwischen den flachen Ruinen, durchsetzt von Graslilien und Lorbee r gewächsen. Im strömenden Regen funkelten die Blätter der Pflanzen wie schwarzes Glas, filigrane Gebilde, die das ferne Aben d rot in Blut tauchte.
    Die Ereignisse von damals stiegen mit aller Macht aus Ailis’ Erinnerung empor. Bei jedem Schritt bekämpfte sie den Drang, sich nach Verfolgern umzusehen. Zwei- oder dreimal schaute sie sich tatsächlich um, überzeugt, heißen Atem in ihrem Nacken zu spüren. Doch sie war weit und breit das einzige lebende Wesen. Die Mauerre s te waren mit weißem Vogelkot übersät. Die Tiere hatten vor der Sintflut vom Himmel in den nahen Wäldern Schutz gesucht. Kein Pfeifen erklang, kein Flügelschlag, nur das Prasseln des Regens und das dumpfe Brodeln der Stromschnellen.
    Es dauerte nicht lange, bis Ailis den Brunnen vor sich sah. Nichts hatte sich verä n dert. Das runde Gitter war fest im Boden über der Öffnung verankert, die widerl i chen Stahlspitzen stachen in alle Richtungen wie eine riesenhafte Dornenkrone. Erland musste nach genauen Plänen des Grafen gearbeitet haben. Der Schmied selbst, dessen war Ailis sicher, hätte eine so gemeine Konstru k tion nie ersinnen können. Gewiss, er schuf Schwerter, Dolche und Pfeilspitzen; Stacheln aber, um kleine Mä d chen daran aufzuspießen, widersprachen seiner sanften Art.
    Ein Wind erhob sich, brauste aus der Tiefe des Flus s tales herauf und trieb den R e gen einige Augenblicke lang geradewegs in Ailis’ Gesicht. Ganz in der Nähe entdec k te sie einen Quell, der zwischen den Felsen hervor in e i nen kleinen Tümpel sprudelte. Warum, um alles in der Welt, hatten die Erbauer dieser Anlage einen Brunne n schacht in den Fels getrieben, wenn sich nur wenige Schritte entfernt eine Quelle befand? Wie vieles andere ergab auch das keinen Sinn. Warum hatte man die Fe s tung verfallen lassen, wo doch ihre Lage günstiger kaum sein konnte? Weshalb wurde davor gewarnt, hier herau f zusteigen? Und wer war auf den Einfall gekommen, ein kleines Mädchen hier oben einzukerkern?
    Ailis’ Bewegungen wurden immer vorsichtiger, z u rückhaltender. Ihre Scheu vor dem furchtbaren Stache l gitter und dem schwarzen Schlund, der darunter gähnte, wurde mit jedem Schritt stärker. Sie spürte, dass sie nicht hier sein sollte, fühlte, dass es falsch war, diesen Ort ein zweites Mal aufzusuchen. Noch drei Schritte, dann wü r de sie in die Reichweite der messerscharfen Stahldornen treten. Das furchtbare Schmiedewerk erinnerte sie an die Beine einer Spinne, die tot auf ihrem Rücken lag.
    Reiß dich zusammen!, ermahnte sie sich. Du führst dich auf wie ein Kind. Was soll schon passieren? Wenn du nicht hineinläufst, können dir die Spitzen nichts anh a ben. Und das kleine Mädchen muss seit vielen Monden tot sein, verhungert oder erfroren.
    »Willkommen«, sagte eine sanfte, helle Stimme aus der Dunkelheit des

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