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Loreley

Titel: Loreley Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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hat. Ich bin sein Lehrmädchen, weißt du? Ich meine, von außen sieht es einfach aus, aber das täuscht.«
    »Ja, ja«, sagte das Mädchen mit einer Spur von Ung e duld. »Du hast wohl nicht z u fällig den Schlüssel dabei?«
    Ailis schüttelte den Kopf. »Woher sollte ich den h a ben?«
    »Immerhin gehst du beim Schmied in die Lehre. Das hast du doch gerade gesagt, oder?«
    »Aber ich weiß nichts von einem Schlüssel. Ich weiß nicht einmal, ob Erland dieses Schloss gebaut hat.«
    »Wer sonst, du Dummkopf?«, sagte die Kleine und runzelte unter ihren nassen Haarsträhnen die Stirn.
    Sie spricht nicht wie ein kleines Mädchen, überlegte Ailis verwundert. Sie tut so, als sei ich das Kind, nicht sie.
    Einen kurzen, boshaften Augenblick lang dachte sie, dass e s dem Mädchen vie l leicht ganz recht geschah, hier oben eingesperrt zu sein. Doch das Gefühl schwand so unvermittelt, wie es gekommen war.
    Ailis lief einmal im Kreis um das Gitter, betrachtete die Bolzen und Ketten, die es am Boden hielten. Nicht einmal ein Pferdegespann würde in der Lage sein, die Vera n kerungen herauszureißen. Es sah in der Tat aus, als könnte allein der passende Schlüssel das Mädchen b e freien.
    »Könntest du nicht danach suchen?«, fragte die Kleine mit großen Augen. »Vie l leicht hat der Schmied den Schlüssel irgendwo in seiner Werkstatt versteckt.«
    »Er würde mir nicht erlauben, ihn zu nehmen.«
    »Du könntest ihn dir ausleihen und später wieder z u rücklegen. Er würde es b e stimmt nicht merken.«
    Ailis’ Miene verhärtete sich. »Du meinst, stehlen?«
    »Warum nicht?«
    »Ich würde Erland niemals bestehlen.«
    »Aber das hast du doch schon getan.« Die Kleine strahlte sie aus der Dunkelheit an. »Die Münze für den Fährmann, du erinnerst dich?«
    »Woher – «
    »Ich weiß vieles. Ich könnte dich daran teilhaben la s sen, wenn ich frei wäre.«
    Ailis schloss die Augen und legte ihren Kopf in den Nacken. Eiskalt peitschte ihr der Regen ins Gesicht, brachte sie ein wenig zur Besinnung. Was immer das Mädchen mit ihr tat – sie hatte Angst davor. Es war fast, als zöge jemand an unsichtbaren Fäden in ihrem Kopf. Ailis lehnte sich dagegen auf – und vergaß schon im nächsten Augenblick, gegen was sie sich überhaupt au f lehnen wollte.
    Sie ging auf dem Fels in die Knie, bückte sich unter einer schräg stehenden Stah l spitze hindurch und führte das Gesicht bis auf Handbreite an das Vorhängeschloss heran. In dem eisernen Bügel vereinigten sich mehrere Ketten und Metallösen, ein kompliziertes Wirrwarr, das auf geheimnisvolle Weise die gesamte Gitterkonstruktion zusammenhielt. Es schien Ailis immer unwahrscheinl i cher, dass Erland diesen Mech a nismus entworfen hatte. Noch nie hatte sie etwas gesehen, das dem hier auch nur äh n lich war. Andererseits zeigten gewisse handwerkliche Kniffe eindeutig die Handschrift ihres Lehrmeisters.
    »Stiehl den Schlüssel«, verlangte das Mädchen noch einmal. Seine Wangen schi e nen leicht zu beben, aber vielleicht war das nur eine Täuschung. Hinter den Bergen am Westufer ging die Sonne endgültig unter und das karmesinrote Licht verblasste. Bald würde auch die fahle Dämmerung schwinden, fortgeschwemmt vom endlosen Regen.
    »Ich kann das nicht tun.« Ailis richtete sich auf.
    »Stiehl ihn.«
    »Wie kannst du das von mir verlangen?«
    Das Mädchen schnitt ihr eine Grimasse. »Wie kon n test du mit ansehen, wie man mich hier unten eingesperrt hat?«
    Ailis wurde wütend. »Was hätte ich denn deiner Me i nung nach tun sollen?«
    »Du hättest allen davon erzählen können. Irgendwer hätte schon einen Weg gefunden, mich hier rauszuh o len.«
    »Wie denn, ohne den Schlüssel?«
    »Irgendjemand hätte den Mut gehabt, ihn zu stehlen.«
    »Das bezweifle ich.«
    Der Blick des Mädchens wurde so stechend wie die Stahlspitzen. »Stiehl ihn, Ailis! Es hat dir die ganze Zeit über keine Ruhe gelassen. Warum also zögerst du jetzt?«
    »Ich habe Erland einmal bestohlen und mir geschw o ren, es nie wieder zu tun.«
    »Narretei!«, zischte die Kleine. »Führ dich nicht auf wie ein Kind.«
    Es war seltsam, sich das aus dem Mund dieses Mä d chens sagen zu lassen, aber A i lis war zu müde und zu abgekämpft, um sich dagegen zu wehren. Irgendetwas entzog ihr die Kraft, die dazu nötig gewesen wäre.
    »Stiehl ihn«, wiederholte das Mädchen mit Nac h druck. »Du kannst es tun. Es liegt in deiner Macht.«
    »Warum hat man dich überhaupt hier eingesperrt?« Ailis konnte selbst

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