Loreley
kindisch. Es hatte nicht einmal in ihrer Absicht gelegen. Es war einfach aus ihr herausgesprudelt.
Die Worte hatten ihn dennoch getroffen, das sah sie ihm an. Früher hatte sie ihn nicht so leicht durchschauen können. Immerhin etwas, das sie dazugelernt hatte. Vie l leicht hätte sie es erwähnen sollen; vielleicht hätte ihn das stolz gemacht.
»Deine Mutter hat immer noch Schmerzen in ihren Armen, wenn das Wetter schlecht ist«, sagte er.
»Ist das alles, was dir einfällt?«, fragte sie. »Immer wieder die gleichen Vorwürfe, die gleichen Sticheleien?« Er wusste doch, dass es ein Unfall gewesen war. Er wus s te es doch.
Aber wusste sie selbst es denn auch? Sicher, man hätte es einen Unfall nennen kö n nen und es wäre keine Lüge gewesen, aber tief in ihrem Herzen verbarg sich die G e wissheit, dass alles ganz anders gewesen war. Kein U n fall. Ihre Schuld, ihre ganz allein.
»Du hättest nicht kommen sollen.« Seine Stimme klang plötzlich müde. »Wir wo l len dich hier nicht haben, Ailis. Geh dorthin zurück, woher du gekommen bist. Ich wünsche dir alles Gute in deinem weiteren Leben.« Er wandte sich ab und ging davon. »Viel Glück«, murmelte er noch einmal, scheinbar zu sich selbst, dann war er zwischen den Zelten verschwunden.
Ailis’ Mutter saß immer noch da und rupfte das Huhn, aber ihre Bewegungen waren schneller, abgehackter g e worden. Als Ailis vor ihr in die Hocke ging, sah sie, dass sie weinte. Und plötzlich tat ihr das, was sie gesagt hatte, unendlich leid. Sie hatte um Vergebung bitten wollen – zumindest irgendwo tief in ihrem Inneren hatte sie das wirklich gewollt –, doch stattdessen hatte sie alles nur noch schlimmer gemacht. We l ches Recht hatte sie, diese Frau zu verurteilen? Ihre Mutter zu verurteilen? Und nicht sich selbst, sondern ihrem Vater dafür die Schuld zu geben?
Es war vor elf Monden gewesen, eine oder zwei W o chen nach dem Vorfall auf dem Lurlinberg. Seit der Jagd auf das kleine Mädchen und dem Schwur, den sie dem Grafen hatte leisten müssen, hatte Ailis sich verändert. Sie war abwechselnd verzagt und rei z bar gewesen und es hatte zahlreiche Beschwerden von Burgbewohnern geg e ben, die behauptet hatten, Ailis habe sie beleidigt.
Nachts konnte sie nicht schlafen, weil Alb träume sie plagten, in denen sie selbst das Opfer der Jäger war. Sie wurde von ihnen in den Schacht gestoßen, und es war ihr Vater, der das Gitter vor die Öffnung zerrte. Dann e r wachte sie schreiend in der Finsternis, von Panik g e schüttelt, doch ihre Mutter schlief in einem anderen Teil der Burg und konnte sie nicht trösten; sie wusste ja auch nicht, was vorgefallen war, und hätte Ailis ihr die Wah r heit gesagt, so hätte ihr Vater sie doch nur der Lüge b e zichtigt.
Im Schatten, in den Wolken und einmal sogar im Dunkel des Burgbrunnens sah A i lis das Gesicht des Mädchens, wie es sie um Hilfe bat, wie es flehte und mit den Hä n den nach ihr griff. Die Bilder in ihrem Kopf nahmen mit jedem Tag an Kraft und Gra u samkeit zu, und irgendwann begann Ailis, die Züge des Mädchens auch auf den Gesic h tern anderer Menschen zu sehen, erst auf dem ihres Vaters, dann auch auf dem ihrer Mutter.
Es gab Streit, mehr noch als zuvor, und bei einer di e ser Auseinandersetzungen hörte Ailis das Mädchen we i nen, verzweifelt und voller Qual, und sie wollte ihrer Mutter erklären, was geschehen war, doch ihr Vater kam dazu und schlug a uf Ailis ein, wo r aufhin sie einen Stock packte und sich zur Wehr setzte. Ihre Mutter ging dazw i schen – zum ersten Mal in all den Jahren –, und Ailis schlug trotzdem zu, traf ihre Mutter an der Schulter, nicht schlimm genug, um sie zu verletzen, aber doch kräftig genug, dass ihre Mutter zurückwich und rückwärts einige Stufen hinabstolperte und dabei derart unglücklich stür z te, dass sie sich beide Handgelenke brach und woche n lang vor Schme r zen kaum sprechen, geschweige denn arbeiten konnte.
Jetzt, fast ein Jahr später, kauerte Ailis vor ihrer we i nenden Mutter, die sich an das gerupfte Huhn klammerte, als könnte es all ihre Sorgen und Nöte auf einen Schlag von ihr nehmen. Ailis begriff, dass ihre Mutter sich schrecklich einsam fühlen musste, allein gelassen von ihrem Mann und von ihrer einzigen Tochter verachtet. Ailis wollte etwas sagen, irgendetwas, aber die Worte kamen nicht über ihre Lippen, als fürchtete sie, alles nur noch schlimmer zu machen. Ihr Mund war trocken, ihre Zunge wie gelähmt. Sie hockte da, vor dieser Frau,
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