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Loreley

Titel: Loreley Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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Es hatte in den vergangenen Jahren eine ganze Reihe von Hungersnöten gegeben, einige, die me h rere Monde, einmal sogar den ganzen Winter und das Frühjahr angehalten hatten. Von Erland hatte Ailis g e hört, dass viele Bauern und Holzfäller, die ein Lehen d e rer von Katzenelnbogen bewohnten, dem Grafen die Schuld an ihrem Elend gaben. Gewiss, er hatte die Abg a ben erhöht, aber das war noch nicht das Schlimmste. Vielmehr hatte er große Waldgebiete und Felder einzä u nen und bewachen lassen, Ländereien, die zuvor jede r mann zugänglich gewesen waren, der darauf eine Sau oder Kuh halten wollte. Manche Böden waren mager geworden und es gab einen allgemeinen Mangel an Mist, um die Äcker zu düngen – ein unheilvoller Kreislauf, denn das Vieh war überhaupt erst abgeschafft worden, um Platz für Getreide und Rüben zu schaffen. Doch ohne den Mist der Tiere gedieh mancher Anbau nur kläglich und die Bauern schoben die Schuld daran auf ihren Lehnsherrn. Hätte der Graf gewisse Gebiete nicht für sich allein beansprucht, hätte e s genug Platz für die Viehzucht und den Ackerbau der einfachen Leute geg e ben.
    Hinzu kam der umstrittene Bau der Burg Reichenberg. Keinem Bauern, der daheim seine Kinder hungern sah, gefiel die Vorstellung, dass seine Abgaben dem Moloch eines weiteren Burgbaus zugeführt wurden. Warum g e nügte dem Herrn von Katzenelnbogen nicht Burg Rhei n fels? Warum musste ein noch größeres, prachtvolleres Anwesen errichtet werden, wenn im umliegenden Land den Menschen die Mägen knurrten? Zudem waren nicht wenige von ihren Feldern abgezogen und für die Baua r beiten zwangsverdingt worden – zwar wurden sie dafür entlohnt, doch wer kümmerte sich derweil um ihre Äcker?
    Der Graf konnte die Männer, die dem Tross den Weg versperrten, nicht überze u gen, und so schritten letztlich doch die Wachen ein und vertrieben die Aufrührer mit der Androhung von Gewalt. Ailis sah, wie ihnen die Bl i cke der Männer am Wegesrand folgten – gerötete Augen voller Hass und Verbitterung – und sie fühlte sich u n wohl als Teil der gräflichen Reisegesellschaft. Zugleich aber begriff sie, welch großes Privileg sie genoss, auf Burg Rheinfels leben zu dürfen, und ihre Ansichten über den Wert dieser Gunst änderten sich allmählich. In Z u kunft würde sie vielleicht nicht mehr gar so leichtfertig damit prahlen, irgendwann von hier fortzulaufen.
    »Und wer trägt die Schuld an dem ganzen Ung e mach?«, brummte Arnulf neben ihr und schüttelte mü r risch den Kopf.
    Ailis verstand nicht, was er meinte. »Wer denn?«
    »Na, König Ludwig natürlich«, entgegnete der alte Pferdeknecht mit gesenkter Stimme, damit niemand sonst ihn hörte. »Hat sich vom Grafen Geld geliehen, viel Geld. Und n ich’ nur von unserem Herrn, sondern von Edelleuten im ganzen Land.«
    »Und?«
    »Er kann’s nich’ zurückzahlen.« Arnulf machte mit der Hand eine weit ausholende Geste, als wollte er damit ausdrücken, dass die Ränke der Mächtigen vor ihm au s gebre i tet lagen wie ein offenes Buch. »Ich kenn mich aus, kannste mir glauben, Kleine. Der König hat sich all das schöne Geld geliehen, viel, viel Geld, und als er g e merkt hat, dass er seine Schuld nich’ begleichen kann, hat er neue Münzen prägen lassen und damit das alte Geld wertlos gemacht. Plötzlich war das, was er sich g e liehen hat, kaum noch was wert und das hat er dann mit seinen frischen Münzen zurückgezahlt. Alle haben Ve r luste gemacht, und was für Verluste, sag ich dir! Hätt man sich fünf Burgen von bauen können! Ehrlich, is’ wirklich wahr, Kleines, ich hab’s im Wirtshaus gehört. Da war ein kluger Mann, ein Edelmann, glaub ich, der wusste über alles Bescheid. Na ja, und ziemlich betru n ken war er auch.«
    Arnulf stieß ein meckerndes Kichern aus und fuhr fort, über den König und seine Betrügereien zu schimpfen, aber Ailis hörte ihm nicht mehr zu. Ihre Gedanken waren längst ganz woanders, auf Burg Reichenberg, bei ihren Eltern, aber auch bei Fee. Ganz besonders bei Fee. I m mer wieder warf sie verstohlene Blicke zur Kutsche, und manc h mal gelang es ihr, zwischen den schaukelnden Vorhängen einen Blick auf Fees Gesicht zu erhaschen. Sie war hübsch, trotz der anstrengenden Reise, viel hü b scher als Ailis selbst. An manchen Tagen wünschte Ailis sich ein so zartes, ebenmäßiges Gesicht wie das Antlitz von Fee. Manchmal sehnte sie sich heimlich danach, es zu berühren, um sich dabei vorzustellen, es sei ihr eig e nes.
    Endlich

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