Loreley
unter der Oberfläche.
Zum ersten Mal seit Wochen spürte Ailis wieder das Ziehen.
Erst war es nur der impulsive Wunsch, noch einmal dort hinaufzusteigen, gegen ihr besseres Wissen, gegen ihre Überzeugung, dass dort oben etwas Schlimmeres als Schmerz, e twas Schlimmeres gar als der Tod auf sie wa r ten mochte. Doch aus dem Wunsch wurde ein sonderb a res Gefühl unerfüllter Verpflichtung, so als gäbe es e t was, das sie längst hätte tun müssen und schon viel zu lange vor sich hergeschoben hatte. Der Ansturm fremder Empfindungen gipfelte in dem brennenden Begehren, noch ei n mal von dort oben über den Strom zu schauen, das Kribbeln der Winde hoch auf dem Lurlinberg zu sp ü ren, mit den Fingerspitzen über das samtige Moos der Ruinen zu streichen, über die brüchigen Mauern zu ste i gen und das kühle Gestein des Berges unter den Füßen zu fühlen, so alt, so rätselhaft, so unendlich tief in der Welt verwurzelt.
Auch Fee blickte über das Tal und den Fluss hinweg auf die gegenüberliegenden Hänge. Unter dem aufg e wühlten Himmel sah es aus, als flüchteten die Berge vor der näher rückenden Schneefront. Wie riesenhafte Nack t schnecken schienen sie sich auf die beiden Mädchen z u zuschieben, Giganten aus Tonschiefer, Erde und Lehm.
Ailis hörte wieder das Singen, fühlte es als dumpfes Vibrieren ihrer Sinne, ein Beben, das ihren ganzen Kö r per erfüllte. Es war das alte Ziehen, doch zugleich war es viel mehr als das: heller, kindlicher Gesang, und darin eine versteckte Melodie wie beim Spiel des Langen Jammrich. Und trotzdem klang sie gänzlich anders. Älter, mächtiger. Und irgendwie verschlagen.
Sie musste gehorchen. Wusste, dass sie gehorchen würde. Nur Fee musste sie dazu irgendwie loswerden.
»Ich laufe nochmal runter ins Dorf«, sagte Ailis und fragte sich, ob das ihr eigener Einfall war oder ob jemand anders ihr die Worte eingegeben hatte. Seltsamerweise beunruhigte sie dieser Gedanke nicht halb so sehr, wie er es eigentlich hätte tun sollen.
»Was willst du denn da?«, fragte Fee verblüfft und schaute sich zu ihr um. Sie e r schrak sichtlich, als sie sah, wie bleich Ailis geworden war. »Geht’s dir auch gut?«
»Ja, sicher.«
»Du siehst aber nicht so aus.«
»Das liegt am vielen Met.«
Fee war anzusehen, dass diese Antwort sie nicht z u frieden stellte, doch im Augenblick bohrte sie nicht we i ter. Der Wetterwechsel, der sich jenseits des Rheins a n kündi g te, gefiel ihr nicht. Sie verabscheute Kälte. Zwar trugen Ailis und sie gefütterte Kle i dung, und noch war kein Schnee gefallen, doch die Ankündigung des herei n brechenden Winters bereitete ihr Unbehagen. Sie wollte nach Hause, konnte es kaum noch erwarten, sich vor e i nem knisternden Kaminfeuer unter einem Schafsfell zu verkriechen. Vielleicht hatte Ailis ja Recht, sie hatten wirklich zu viel getrunken.
Gemeinsam machten sie sich auf den Weg. Sie mus s ten ein Stück durch den Wald gehen, um an den Kreu z weg zu gelangen, an dem es links zur Burg und rechts hinab ins Dorf g ing.
Ailis hatte es jetzt sehr eilig, doch trotz ihrer inneren Zerrissenheit erkannte sie die Notwendigkeit, Fee eine Erklärung zu geben. »Einer der Fischer schuldet Erland den Preis für einen Dolch. Ich habe ihm versprochen, ins Dorf zu gehen und den Kerl daran zu erinnern.«
»Hat das nicht bis morgen Zeit?«, fragte Fee verwu n dert.
»Ich sag doch, ich hab’s ihm versprochen.«
Fee zuckte mit den Schultern. »Dann beeil dich. Die Wolken dort drüben sehen nicht freundlich aus.«
»Sicher.«
Ailis ließ Fee am Kreuzweg stehen und rannte den Hang hinunter zum Dorf. Sie hatte Glück: Der Fährmann wollte g erade ablegen, um ein paar Bauern von der and e ren Seite rechtzeitig vor dem Unwetter nach Hause zu bringen. Niemand hatte etwas dag e gen, dass Ailis mit auf die Fähre kletterte.
Am anderen Ufer lief sie den Hang hinauf und erreic h te atemlos das verlassene Pl a teau des Lurlinberges. Es war still hier oben, als hätte sich bereits unbemerkt eine unsichtbare Schneedecke über die Landschaft gelegt, die jedes Geräusch ins Gegenteil verkehrte, in verschiedene Abstufungen von Schweigen. Dort, wo die Natur am laute s ten hätte sein müssen, zwischen den Ruinen am Ende der Felszunge, wo die Stromschnellen nah und die Windstöße beißend waren, schien die Stille noch vol l komm e ner zu sein als anderswo. Etwas schien jeden Laut aufz u saugen, und es dauerte eine Weile, ehe Ailis begriff, dass die Ruhe in Wahrheit gar keine war. Es
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