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Loreley

Titel: Loreley Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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Mutter klang gütig, besorgt, nicht vorwurfsvoll, als sie ihr ins Ohr raunte: »Du hast dein Haar ja immer noch nicht wachsen lassen. Dein Vater wird w ü tend sein, wenn er das sieht.«
    Ailis ließ sie schlagartig los und trat einen Schritt z u rück. Die Augen ihrer Mutter glänzten, aber plötzlich spürte sie in sich nicht mehr die Kraft, auf die Tränen a n derer Rücksicht zu nehmen. Sie setzte zu einer heft i gen Erwiderung an, als ihr eine scharfe Stimme zuvo r kam.
    »Ist es schon soweit? Wirst du deine Mutter jetzt wi e der schlagen, Ailis?«
    Sie wirbelte herum. Ihr Vater war herangekommen, ohne dass sie ihn bemerkt hatte. Er stand in seiner grü n braunen Jägerkleidung vor ihr, irgendwie kleiner, als sie ihn in Erinnerung gehabt hatte, und auch sein Haar sah lichter aus, als hätten sie sich Jahre nicht gesehen. Alte r ten Menschen vielleicht schneller, wenn man nicht hi n sah?
    Ailis’ Vater war immer ein schlanker, stattlicher Mann gewesen, mit kräftigen Oberarmen und muskulösen Schenkeln. Im Grunde hatte sich daran nichts geändert, und doch wirkte er jetzt in Ailis’ Augen weniger ei n drucksvoll als früher, nicht mehr so bedrohlich. Eher schwächer, fast verletzlich. Hatte ihre Wahrnehmung ihr jahrelang einen Streich gespielt? Nein, dachte sie, das machte die Trennung. Ob ihre Mutter es nun aussprach oder nicht, aber sie war erwachsen geworden.
    So versunken war Ailis für einen Moment in seine B e trachtung, dass ihr erst mit e i niger Verzögerung klar wurde, was er gesagt hatte. Wirst du sie wieder schlagen, Ailis? Eines also hatte er nicht verlernt: Er vergaß keine alten Wunden, und er wusste, wie man einen Vorteil nutzte. Das zumindest stimmte mit dem Mann aus ihrer Erinnerung überein.
    »Ich schlage niemanden, Vater«, sagte sie betont, und wusste im gleichen Auge n blick, dass es ein Fehler war. Sie hätte nicht darauf eingehen, ihm keine Angriffsfläche bieten sollen.
    »Das ist schön«, sagte er betont freundlich. »Vor a l lem für deine Mutter.« Und dann drehte er genüsslich das Messer in der Wunde herum und fügte hinzu: »Wenn sie sich die Arme noch einmal bricht, wäre sie ja auch zu nichts mehr nütze, nicht wahr?« Das war eine deutliche Drohung an sein Weib, jetzt nur ja nicht die Seiten zu wechseln.
    Ailis’ Mutter ließ sich auf einen Rübensack fallen und zupfte fügsam an den Federn des Huhns. Sie wagte nicht, noch einmal zu ihrer Tochter aufzuschauen.
    Ailis fühlte sich, als wäre etwas in ihr in Stücke gebrochen. Sie spürte, dass ihre Beine bebten und ihre Finger zitterten. Ein Gefühl, als würden ihre Wange n knochen unter der Haut u mherhüpfen, kroch über ihr G e sicht, eine Maske aus Zorn und Verbitt e rung. Und aus offenem Hass.
    Ja, sie hasste ihn, und sie war drauf und dran, es ihm zu sagen – nicht zum ersten Mal –, als ihr klar wurde, dass er darauf nur wartete. Wartete, dass sie ihm einen Grund gab, sie vor allen anderen zu verstoßen.
    Oh, Fee, dachte Ailis, was hast du nur angerichtet, als du mich an dieser Reise hast teilnehmen lassen! Aber die Zeiten, in denen sie ihrer Freundin die Schuld an allem geben konnte, waren endgültig vorbei. Fee war nicht das, was sie in den letzten Monden in ihr gesehen hatte, das begriff Ailis in diesem Augenblick mit völliger Klarheit. Die Ursachen lagen zum größten Teil in ihr selbst, doch der wahre und einzige Ursprung all dessen stand vor ihr, lächelnd, aber mit Augen aus erkalteter Asche.
    »Warum bist du gekommen?«, fragte er. »Hast du nicht schon genug Schaden ang e richtet?«
    Ailis bemerkte, dass mehrere Frauen und Arbeiter sie verstohlen beobachteten. Aber es war ihr gleichgültig, was andere über sie dachten.
    »Vielleicht habe ich die Gewissheit gebraucht, dass sich wirklich nichts geändert hat«, sagte sie kühl und ha t te plötzlich Angst, ins Stottern zu geraten. Sie fürchtete, dass ihr Gesicht rot anlaufen würde und sie vor ihrem Vater wie ein dummes Kind dastünde. Nichts war e r bärmlicher als Überlegenheit, die sich als schlechte Ma s kerade entpuppt. »Ich wollte meine Mutter wiedersehen«, fügte sie hinzu und blickte auf die erschöpfte Frau herab, die neben ihr auf dem Rübensack saß. »Aber ich sehe, dass du ihren Willen endgültig gebrochen hast, Vater. Das muss ein großer Triumph für dich gewesen sein. Was hast du getan? Einen Krug Bier darauf getrunken? Oder zwei oder drei?«
    Ihr Vater war kein Trinker, und der Versuch, ihn als solchen hinzustellen, war mehr als

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