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Loreley

Titel: Loreley Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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erschien vor ihnen der Fels, auf dem sich die ersten Mauern der neuen Burg erhoben wie die Ruinen einer längst gefallenen Festung. Sie erinnerten Ailis schmer z lich an die alte Wehranlage auf dem Lurlinberg und ein Schauder rann ihr über den Rücken. Doch all ihre finsteren Gedanken wurden in den Hintergrund gedrängt, als sie sah, welch freundlichen Empfang man dem Gr a fen und seinen Begleitern entbot.
    Ein Großteil der Männer hatte von der Arbeit abgela s sen, als die Wächter das N a hen des Trosses angekündigt hatten. Viele hatten sich trotz der Kühle des Tages die. Hemden ausgezogen und schwenkten sie nun rechts und links des Weges wie Fahnen. Jemand sang ein Lied und eine Vielzahl rauer Kehlen stimmte mit ein. Steinmetze und Hüttenknechte, Maurer, Tischler und Gräber, sie alle hatten sich am Fuß des Burgberges versammelt, una b hängig ihrer Rangordnung auf der Baustelle, um dem Grafen und seiner Familie Ehre zu erweisen.
    Je länger Ailis aber das farbenfrohe Treiben beobac h tete und je näher sie dem Me n schenauflauf kam, desto deutlicher sah sie den Unmut in vielen Gesichtern. Es bestand kein Zweifel, dass die Arbeiter von den Ba u meistern angewiesen worden waren, Freude zu heucheln. Tatsächlich offenbarte sich auch hier, dass der Graf seit den Umzäunungen und Hungersnöten an Beliebtheit ve r loren hatte. Auch er selbst musste das bemerken, denn er hielt nicht an, um die freundlichen Gesten zu erwidern, sondern ritt schnu r stracks zwischen den Reihen hindurch und würdigte die widerwillig jubelnden Männer keines Blickes. Fee und die Gräfin ließen sich ebenfalls nicht hinter den Vorhängen der Kutsche blicken, und so gab es nur wenige – jene, denen die Begrüßung am wenigsten galt, unter ihnen Arnulf –, die den Arbeitern huldvoll zuwinkten.
    Der Tross endete an einem steilen Weg, zerfurcht von Karrenrädern und Huf sp u ren, der zur Baustelle auf der Bergspitze führte. Die Zelte der Arbeiter, braune, im Wind flatternde Ungetüme aus gefettetem Leder, standen weit verteilt am Hang, die meisten auf terrassenförmigen Erdwällen, die man nur für diesen Zweck aufgeworfen hatte. Hier und da waren auch Frauen im Lager zu sehen und aus einem Zelt hörte Ailis deutlich das Schreien e i nes kleinen Kindes.
    Einer der Baumeister führte die gräfliche Reisegesel l schaft über das Gelände der Baustelle. Der Graf behielt Recht, es gab in der Tat noch nicht viel zu sehen. Viel mehr als die verschachtelten Fundamente und die gerade erst ausgemauerten, noch unter freiem Himmel liegenden Kellergewölbe faszinierte Ailis die Aussicht über die u m liegenden Wälder und Hügel. Am kalten, klaren Herbs t himmel drehten Greifvögel ihre Kreise, einer stieß u n weit der Burg auf eine kleine Wiese herab und packte etwas, klein und braun und voller Panik; es strampelte verzweifelt, als der Vogel es mit sich davo n trug. Eine Brise sträubte das hohe, trockene Gras, das von den g e genüberliegenden Hängen als grüne Woge hinab in die schattigen Täler floss. Ailis verstand, weshalb der Graf gerade diesen Berg als Standort seiner neuen Feste au s gewählt hatte. Neben dem strategischen Wert, den das Gelände besaß, musste die Schönheit der Umgebung j e dermann gleich ins Auge springen. Auch Ailis vermochte sich vorzustellen, sich hier wohl zu fühlen, selbst wenn der Bau noch viele Jahre in Anspruch nehmen würde. Einmal mehr fragte sie sich, für wen Graf Wilhelm all diese Anstrengungen eigentlich unternahm. Er hatte ke i ne eigenen Kinder, und ob Fee ihm je Stammhalter schenken würde, war noch lange nicht entschieden.
    Als die Besucher nach der Führung den Berg hinab zum Hauptlagerplatz der Arbe i ter wanderten, bemerkte Ailis schon von weitem, dass sie erwartet wurde. Ihre Mu t ter stand neben einer der vielen Feuerstellen und hielt Ausschau nach ihr; sie beschirmte die Augen mit ihrer rechten Hand und hielt in der linken ein halb gerupftes Huhn. Zu ihren Füßen wurde ein Haufen graubrauner Federn vom Wind aufgewirbelt und in alle Richtungen verstreut.
    Ailis eilte auf sie zu und umarmte sie, noch bevor sie einander in die Augen blicken konnten. Am liebsten hätte sie diese Umarmung ewig aufrechterhalten, nur damit sich ihre Blicke nicht trafen, denn davor hatte sie die meiste Angst, selbst jetzt noch, da sie den warmen Atem ihrer Mutter an ihrem Hals spürte.
    Sie wird sagen: Du bist groß geworden, dachte Ailis. Oder: Du siehst schon so e r wachsen aus. Etwas in dieser Art.
    Die Stimme ihrer

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