Loreley
war der Gesang des Mädchens, der alles andere zum Schweigen brachte, so fremdartig, dass Ailis ihn nicht mehr als Folge von Tönen wahrnahm, nicht als etwas, das man hören, so n dern nur fühlen konnte. Es kam ihr vor, als hätte der G e sang eine neue Sinneswahrnehmung in ihr geweckt, nicht Hören oder Sehen oder Fühlen oder Schmecken, vie l mehr etwas, für das es noch kein Wort gab, etwas, das einzig auf den Lockruf des Mä d chens ansprach.
Die Erkenntnis hätte sie ängstigen müssen, doch das tat sie nicht. Beinahe fühlte Ailis Freude darüber, in sich etwas entdeckt zu haben, das all die Jahre ihres Lebens über brachgelegen hatte.
Das Mädchen im Brunnen sah heute besser aus als bei Ailis’ letztem Besuch. Sein hübsches Gesicht war sauber, und auch sein Kleidchen wirkte, obgleich zerrissen, wie frisch gewaschen. Sogar sein Haar war weniger strähnig, als wäre es eben erst gebürstet worden. Das Mädchen sah aus wie e ine kleine Prinzessin, fand Ailis. Nur der gold e ne Stirnreif fehlte.
Wie damals kauerte die Kleine auf dem Felsvorsprung unter den Gitterstacheln und schaukelte mit den Beinen über der bodenlosen Schwärze des Schachtes.
»Sei gegrüßt«, sagte sie, als Ailis an das Gitter trat.
Ailis starrte sie verwundert an. Plötzlich kam ihr der Gedanke an Lockgesänge und überirdische Melodien albern vor. »Warst du das?«, fragte sie, obwohl sie die Antwort kannte. »Hast du eben gesungen?«
»Schön, nicht wahr? Ich kann gut singen.«
»Das war mehr als nur schöner Gesang. Da war noch etwas anderes …«
»Die Musik hinter der Musik«, sagte das Mädchen ernsthaft und nickte. »Das meinst du doch, oder? Die geheime Melodie in der Melodie.«
Das waren die gleichen Worte, die der Lange Jam m rich benutzt hatte. Oder nein, dachte Ailis erschüttert: Sie selbst hatte sie benutzt!
»Weißt du, was ich denke?«, fragte sie das Mädchen.
»Jetzt, in diesem Moment?«
Ailis nickte stumm.
»Du denkst, dass ich vielleicht deine Gedanken lesen könnte.« Die Kleine kicherte, als hätte sie einen vortref f lichen Scherz gemacht.
»Was noch?«, fragte Ailis.
»Ach, hör auf«, meinte das Mädchen ein wenig u n gehalten. »Das ist einfach, jeder könnte dir das von der Nasenspitze ablesen. Du weißt nämlich gar nicht genau, was du denken sollst. Stimmt’s?«
»Vielleicht.«
»Verwirre ich dich?«
»Kann schon sein.«
»Bist du glücklich?«
Ailis legte die Stirn in Falten. »Worüber?«
»Dass du hier bist, bei mir.«
»Ja, ich glaube schon.«
»Das ist schön.«
»Warum hast du mich gerufen?« Ailis befürchtete, dass das Mädchen sie jetzt e r neut nach dem Schlüssel fragen würde.
»Mir war langweilig«, sagte die Kleine und schüttelte ihre langen blonden Haare über dem Abgrund aus, als erwartete sie, Goldmünzen könnten herausfallen. Dann, als sie wieder aufblickte, fragte sie: »Tust du mir einen Gefallen?«
Der Schlüssel, dachte Ailis noch einmal. Sie schämte sich jetzt ein wenig, dass ihr Versuch, ihn zu stehlen, misslungen war.
Das Mädchen aber sagte: »Berühre bitte eine der Spi t zen am Gitter.«
»Warum soll ich das tun?«
»Ich will, dass du weißt, wie ich mich fühle, mit di e sen Stacheln dort oben zw i schen mir und dem Himmel, Tag für Tag für Tag.« Die Kleine klang jetzt sehr traurig, und doch weinte sie nicht, wie andere Kinder es vie l leicht getan hätten.
Ailis starrte die stählernen Dornen an, keiner kürzer als ihr Unterschenkel, manche mehr als doppelt so lang. Die Enden waren spitz wie Nadeln.
»Bitte«, sagte das Mädchen noch einmal.
Ailis streckte zögernd den Arm aus. Eine Handbre i te, bevor ihr Zeigefinger das Metall berührte, verharrte sie noch einmal. »Warum bist du so sauber?«, fragte sie.
Das Mädchen blinzelte einen Augenblick lang irritiert. »Sauber?«
»Dein Gesicht, dein Kleid. Sogar dein Haar. Beim letzten Mal warst du viel schmutziger.«
Der Blick der Kleinen wurde finster. »Es hat geregnet. Wochenlang. Vielleicht ist dir das aufgefallen.«
Oh, dachte Ailis benommen, das war dumm gewesen. Jetzt war das Mädchen bele i digt. Zugleich aber fragte sie sich, ob nicht die Kleine selbst ihr die Frage eingegeben hatte, damit sie sich schuldig fühlte.
Sie gab ihren Widerstand auf und berührte unendlich sachte die Spitze eines langen Stahldorns. Als sie die Hand zurückzog, glänzte am Ende ihres Zeigefingers ein winz i ger Blutstropfen. Es tat nicht weh, nicht einmal den Einstich hatte sie gespürt. Und doch hatte der
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