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Loreley

Titel: Loreley Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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die ihr fremd war, und fühlte sich so elend wie nie zuvor. Sie wollte so vieles anders machen, wenn man sie nur ließe. Aber sie wusste auch, dass man solch eine Möglichkeit höchstens einmal im Leben bekam, und sie hatte diese Möglichkeit gerade verstreichen lassen.
    »Geh jetzt«, sagte ihre Mutter leise.
    »Ich – «
    »Nein«, sagte sie. »Geh, bitte.« Und einen Moment später setzte sie hinzu: »Und tu, was dein Vater gesagt hat – komm nicht mehr her. Es hat keinen Sinn.«
    Tränen liefen über Ailis’ Wangen, sie schmeckte den salzigen Geschmack in ihren Mundwinkeln und wünsc h te sich verzweifelt, einmal, nur einmal, würden Tränen i r gendetwas ändern. Als sie schließlich aufstand, brachte sie nicht einmal e in Wort des Abschieds zu Stande. Sie beugte sich vor, umarmte ihre Mutter, drückte sie fest und liebevoll an sich, zum letzten Mal, fürchtete sie, zum letzten Mal, dann warf sie sich herum und lief davon. Lief den Hang hinab, abseits des Weges, abseits der ü b rigen Menschen, die ihr verwundert nachschauten, bis sie das Tal erreichte, das sie von oben gesehen hatte.
    Wogende Wiesen, viel zu grün, viel zu schön für solch einen Augenblick. Hohe, schlanke Tannen am Waldrand und ein winziges Rinnsal, das sich glucksend durch die Landschaft schlängelte, vielleicht dem Rhein entgegen, vielleicht irgendeinem See, der es schluckte und für i m mer zum Schweigen brachte.
    Hier sank sie auf die Knie, am Ufer des Bächleins, b e trachtete die weißen Kiesel unter der Oberfläche, den Kopf und den Oberkörper vorgebeugt wie eine Büßerin vor dem Altar ihrer Heiligen.
    Und hier war es, wo Fee sie schließlich fand, sich zu ihr setzte und ihren Kopf in i h rem Schoß bettete, ihr Haar streichelte und ihr die Tränen vom Gesicht küsste wie die Mutter ihrem Kind oder die Liebende ihrem Geliebten.

  4. Kapitel
     
    Zwei Monde darauf jährte sich Fees Geburtstag zum sechzehnten Mal, und Ailis würde den ihren nur fünf T a ge später begehen. Sie feierten gemeinsam, draußen in den Wä l dern, auf der Kante eines Steilhangs, von der aus sie weit über das Rheintal blicken konnten, über die Weinberge, den Fluss und die Türme der Burg. Sie ließen die Beine von den Felsen baumeln, tranken Met, den Fee aus der Küche gestohlen hatte, und sahen einer Wolke zu, die sich federweiß vom Blau des Winterhimmels a b hob und beständig ihre Form wechselte. Sie scherzten und lachten und waren bald weit ang e trunkener, als es jungen Damen ihres Alters geziemte. Sie begannen ve r gnügt, einander Rätsel aufzugeben, und nachdem sie die unanständigen hinter sich gelassen hatten, waren sie bei den kindischen angelangt.
    »Was ist das?«, fragte Fee. »Ein gefräßiges Maul, ein feuriger Bauch, ein steinerner Darm, das macht uns warm.«
    »Einfach«, meinte Ailis. »Ein Herd.«
    »Mach’s besser.«
    Ailis überlegte. »Es liegt darnieder wie gebrochen, hat hundert Glieder und keine Knochen.«
    Fee trank grübelnd einen Schluck Met – und spuckte ihn in weitem Bogen in die Tiefe, als ihr plötzlich die Lösung einfiel. »Eine Kette!«
    Beide sahen lachend den goldenen Tropfen nach, die glitzernd im Abgrund ve r schwanden.
    »Lass uns zurückgehen«, sagte Fee schließlich. »Es wird bald Abend.«
    Ailis kicherte und ließ die Beine über der Felskante vor und zurück schwingen. »Mir ist schwindelig. Wenn ich jetzt aufstehen muss, falle ich runter.«
    »Unsinn. Sieh her.« Fee zog sich mit beiden Armen ein Stück nach hinten, fort vom Abgrund, dann stand sie auf. »Nun komm schon. Sonst werden sie uns noch s u chen.«
    Ailis grinste. »Besser, sie finden dich nicht mit dem Messkrug in der Hand.« Sie zog eine Grimasse. »Wie unziemlich«, imitierte sie die Stimme von Fees Leibzofe Amrei, was ihr nicht einmal schlecht gelang. Dann kroch sie mit einem Seufzen rüc k wärts und erhob sich.
    »Sieht nach Schnee aus«, sagte sie und deutete zum Himmel. Über ihnen war er noch immer leuchtend blau, doch von Osten her wälzten sich gigantische Wolkenba l len über die Berge, hellgrau und so tief hängend, dass sie bald die oberen Felskuppen verhüllen würden. Der Lu r linberg erhob sich scharf umrissen vor dem Massiv der Uferhänge, mit etwas Mühe konnte man sogar die Si l houetten der Ruinen ausmachen. Der Fels sah aus wie ein knöcherner Unterkiefer, aus dem vereinzelte Zahnstüm p fe ragten. An seinem Fuß wirbelten die Wassermassen des Rheins um die Flusskehre, weiße Gischt brach sich an unsichtbaren Felsnasen

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