Loreley
Stahlspitze auf. Mit solcher Wucht stürzte er in den Tod, dass sein winziger Körper erst in der Mitte des Dorns stecken blieb und eine gli t zernde Spur aus blutverschmierten Federn auf dem Stahl zurückließ. Seine Flügel schlugen weiterhin vor und z u rück, und erst nach einem Augenblick wurde Ailis klar, dass es der Wind war, der sie bewegte. Tränen schossen ihr in die Augen, während sie panisch Hose und Schuhe überstreifte.
Der Gesang des Mädchens verstummte.
»Warum hast du das getan?«, presste Ailis hervor.
Das Mädchen gab keine Antwort, starrte sie nur aus der Tiefe seiner dunklen Augen an.
Das Blut des Vogels lief an der Spitze hinab und trop f te vom Gitter in die Tiefe. Rote Sterne erblühten auf dem weißen Gesicht des Mädchens, als die Blutperlen auf se i ner Haut zersprangen.
»Warum?«, fragte Ailis noch einmal, doch da wusste sie schon, dass sie keine An t wort erhalten würde. Nicht heute.
Sie streckte beide Hände nach dem toten Vogel aus und zog ihn sanft von dem scheußlichen Dorn. Das Loch in seinem Leib war fast so groß wie das ganze Tier, nicht viel hätte gefehlt und der Stahl hätte den Sperling völlig zerrissen.
Mit verschleiertem Blick umrundete Ailis den Schacht, rannte durch die Ruinen der alten Festung und dann den Hang hinab zum Ufer. Unterwegs brach der Schneesturm über sie herein, sie rutschte und schlitterte, doch in ihren Händen schützte sie den Leichnam des Sperlings, als sei er d as Wichtigste, das sie je besessen hatte. Die Sicht reichte jetzt nur noch wenige Schritte weit, so dicht fiel der Schnee. An jedem anderen Tag wäre sie stehen geblieben und hätte verträumt nach oben geschaut, den federleic h ten Flocken entgegen, diesem Meer aus dunklen Sternen am Himmel. Jetzt aber lief sie ohne anzuhalten weiter. Zuletzt war es mehr Stolpern als Laufen, ein Taumeln und Stürzen und Weiterschleppen, und dennoch setzte sie ihren Weg fort, dem Ufer entg e gen, dem Fluss und der Fähre.
Doch als sie unten ankam, fand sie die Anlegestelle verlassen vor. Die Fähre war fort.
Fee legte alle Befehlsgewalt in ihre Stimme, als sie den Fährmann aus seinem Schlummer riss. Erst war er u n gehalten, doch dann erkannte er, wer vor ihm stand und vergaß jeden Gedanken an Widerspruch.
Sie hatte im Dorf nach Ailis gefragt, doch niemand wollte sie gesehen haben. Fee hatte keinerlei Vorstellung, was ihre Freundin auf der anderen Rheinseite suchen kön n te, doch sie wollte keine Möglichkeit auslassen, und so fragte sie den Fährmann herrisch, ob er Ailis hinübe r gebracht habe. Erst schien er verneinen zu wollen, b e sann sich aber dann eines Besseren. Ja, sagte er, er habe ein Mädchen zum anderen Ufer gebracht, doch was es dort gewollt habe, wisse er nicht. Schließlich gab er s o gar zu, dass Ailis ihm aufgetragen habe, auf sie zu wa r ten. Ihm sei aber nach einer Weile die Zeit zu lang g e worden, und da sei er umgekehrt; schließlich habe im Dorf weitere Kundschaft auf ihn gewartet. Das Letzte war eine Lüge, so dreist wie durchschaubar, und Fee warnte ihn, dass ihr Onkel von seinem Fehltritt erfahren würde, falls er nicht augenblicklich täte, was sie von ihm verlange.
Bald darauf standen beide auf der Fähre, bereit zum Ablegen. Der Schnee fiel in weißen Vorhängen vom Himmel. Fee hatte Mühe, die Augen offen zu halten, und dem Fährmann war sichtlich unwohl bei der Vorstellung, in diesem Wetter auf den Fluss hinauszufahren. Bevor er die Leinen löste, sprach er seine Bedenken aus, aber Fee wies ihn derart scharf zurecht, dass sie sich über sich selbst wunderte. Fortan wagte der junge Mann keinen Widerspruch mehr.
Die Strömung war schnell, aber nicht reißend genug, um die Überfahrt zum tol l kühnen Wagnis zu machen. Fee sah zu, wie die Schneeflocken die Wasseroberfläche trafen und fortgerissen wurden. Der breite Strom jagte ihr seit jeher Angst ein. Sie hatte sich oft gefragt, was er wohl unter seinen dunklen Wogen verbarg. Alt waren die G e schichten von Flussweibern und Wassermännern, von unermesslichen Schätzen in der Tiefe und von grauenvo l len Bestien, die in sternlosen Nächten ans Ufer krochen und ihre Opfer unter den Fischern und Wäscherinnen suchten.
Als sich das andere Ufer endlich aus den Schneema s sen schälte, lief die Fähre schon fast auf Grund. Die Sicht war noch schlechter geworden und Fee hatte ihren Kap u zenumhang so fest um ihren Körper gezerrt, dass sie das Gefühl hatte, kaum noch atmen zu können. Falls sie Ailis wirklich
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