Loreley
fand, war diese ihr mehr als eine einfache Erkl ä rung schuldig. Vorausgesetzt, sie wollte überhaupt g e funden werden.
Die Fähre hatte kaum angelegt, als der junge Mann Fee etwas zurief und auf seinen Unterstand deutete, nur wenige Schritte vom Wasser entfernt. Eine Gestalt kaue r te mit angezogenen Knien im Dunkeln.
»Ailis!«, rief Fee. Die Gestalt bewegte sich, langsam, wie eingefroren, so als müs s te sie erst einen Eispanzer rund um ihren Körper zerbrechen.
Fee lief ihr entgegen, und als sie näher kam, sah sie, dass ihre Freundin ihr mit ve r schränkten Fingern beide Hände entgegenstreckte; es sah aus, als betete sie. Sie schien Handschuhe zu tragen, erst braun, dann dunkelrot, und schließlich waren es keine Handschuhe mehr, so n dern Krusten aus getrocknetem Blut.
Ailis öffnete das Nest, das sie mit ihren Händen g e formt hatte, und zeigte, was sie darin trug. Zeigte es, ließ es in den frischen Schnee fallen, wo es rot und leblos liegen blieb.
Fee stellte keine Fragen. Schweigend legte sie ihren Arm um Ailis’ Schultern und führte sie zur Fähre.
5. Kapitel
Fee wusste, was sie erwartete, als sie den Rittersaal b etrat. Ihr Herzschlag raste, sie hatte immer noch Bauc h schmerzen, und sie fürchtete, dass beides sich erst legen würde, wenn sie erfahren hatte, was mit Ailis geschehen war. Aber Ailis hatte kaum ein Wort gesprochen und war gleich in ihrer Kammer verschwunden, und so musste Fee sich wohl oder übel zuerst dem Zorn ihres Onkels über ihre Abwesenheit bei Tisch stellen. Doch eingedenk dessen, was hinter ihr lag, vermochte sie die Vorstellung gräflicher Wutausbrüche und Strafen kaum zu beeindr u cken – wenigstens so lange beides nur vage Vorahnungen waren.
Ihrem Onkel und ihrer Tante nun aber tatsächlich g e genüberzutreten war eine ganz andere Sache. Die beiden saßen schweigend an der Tafel und blickten auf, als Fee eintrat. Das Essen war längst abgeräumt, nur zwei Wei n kelche standen noch vor den beiden auf dem Tisch. Die Diener hatten Ritter Baan ins Badehaus geführt, damit er sich dort von den Anstrengungen der Reise erholen kö n ne, und so war Fee allein mit ihren Stiefeltern. Es gab also keinen Grund für den Grafen, seinen Zorn zu zügeln.
Fee ließ den Sermon ihres Onkels mit gesenktem Haupt über sich ergehen und tat betreten. In Wahrheit aber hörte sie kaum, was er sagte; ihre Gedanken waren bei Ailis. Immer wieder sah Fee sie allein und frierend am Ufer sitzen, d en zerfetzten Sperling in Händen. Hatte Ailis das tote Tier wirklich im Schnee gefunden? Dabei hätte sie sich doch schwerlich derart mit Blut besudeln können! Und warum hatte sie den Vogel überhaupt vom Boden aufgehoben?
Ihr Onkel redete und redete, während die Gräfin stumm daneben saß und ihre Nic h te eingehend musterte. Fee wusste, dass dem Grafen nichts Außergewöhnliches an ihr auffallen würde, dafür war er viel zu sehr Mann. Ihre Tante aber hatte gewiss längst bemerkt, dass ihr Haar zerzaust und ihr Kleid am Saum durchnässt war. Sie sah, wie bleich und durchgefroren Fees Finger waren und dass ihre Wangen von der plötzlichen Wärme des K a minfeuers glühten.
Sie weiß, dass ich draußen war, dachte Fee erstaunt, sie weiß es und verliert doch kein Wort darüber.
Fee nickte bedächtig, wenn sie annahm, dass ihr Onkel das von ihr erwartete, und sie schüttelte den Kopf, wenn es angemessen schien. Lass ihn reden, dachte sie, er wird schon wieder aufhören.
Dann aber, als er allmählich zum Schluss seiner Pr e digt kam, sagte ihr Onkel etwas, das jeden anderen G e danken schlagartig aus ihrem Kopf fegte:
»Du wirst heute Nacht das Bett mit Ritter Baan te i len.«
»Ich werde was?«, rief sie aus, empört, schockiert – vor allem aber ungläubig. Das war nicht sein Ernst!
»Du wirst mit ihm das Bett teilen, wie es das Gesetz der Gastfreundschaft gebietet«, sagte der Graf ungerührt. »Du bist alt genug dazu, und es ist an der Zeit, dass auch du lernst, wie man sich Freunden gegenüber zu verhalten hat.« Er zuckte die Schultern, hob dann den Weinkelch. »Baan ist ein Mann von Ehre. Du solltest dir keine So r gen machen.«
Damit war das Gespräch für ihn beendet.
Fee starrte Hilfe suchend ihre Tante an, doch auf dem Gesicht der Gräfin spiegelte sich keiner ihrer Gedanken. Ihre Mundwinkel schienen leicht zu zucken, aber selbst das mochte eine Täuschung des flackernden Lichts vom Kamin sein.
Dann begriff Fee, was ihre Tante gemeint hatte, als sie sagte, sie wolle Fee
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