Loreley
bedeutet? Kein Wort zu irgendwem, dass ich dir davon erzählt habe.«
»Sicher. Aber was hast du damit gemeint, dass ich nicht ganz unrecht habe?«
»Der Graf fürchtete, Fee würde sich vielleicht irgen d wann an eine kleine blonde Spielgefährtin erinnern und dann würde sie gewiss Fragen stellen. Um dem vorz u beugen, wandte er sich an einen der Jäger – den Vater eines bezaubernden Mädchens, klein und blond wie Fee und ihre tote Schwester. Ein Handel wurde geschlossen. Dein Vater, Ailis, erhielt den Posten des Ersten Jägers, und dafür wurdest du der Obhut der Gräfin unterstellt. Du und Fee, ihr wurdet unzertrennlich, weil man euch gar keine andere Möglichkeit ließ! Ihr hattet nie die Wahl einer anderen Freundin, schon von klein an. Und wenn Fee sich heute an ein kleines Mädchen erinnert, muss sie immer glauben, das seist du gewesen – auch wenn sie in manchen dieser Erinnerungen nicht mit dir, so n dern mit ihrer Schwester spielt.«
Ailis hatte nicht einen Augenblick lang Zweifel an dem, was er sagte. All die Vo r züge, die sie während ihrer Kindheit genossen hatte, die eigene Kammer im Weibe r haus, unweit von Fees Kemenate, die Ausflüge mit der Gräfin und ihren Zofen, die Teilnahme an den Festtag s mahlzeiten im Rittersaal, ihr ungestraftes Ein- und Au s gehen im Haupthaus, all das waren mehr Beweise als nötig. Fee und sie waren nichts als Marionetten gewesen, deren Schnüre von übermächtigen Puppenspielern mi t einander verknotet worden waren. Es war unglaublich und doch so einfach nachzuvollziehen.
»Und alle haben es gewusst?«, fragte sie. »Jeder in der Burg?«
»Alle, die damals schon hier waren. Aber es wurde nie darüber gesprochen. Ich muss den Verstand verloren h a ben, gegen den Befehl des Grafen zu verstoßen!« Er blickte wieder auf zu dem zerstörten Gitter über dem Tor. »Aber vielleicht ist es an der Zeit, wenigstens einen Teil der vielen Lügen aufzudecken. Ich glaube, du bist es wert, Ailis.«
Sie sank zurück auf ihren Hocker beim Feuer. »Willst du wirklich, dass ich das a l les vor Fee geheim halte?«
Er zuckte mit den Schultern, als sei ihm mit einem Mal alles gleichgültig. »Tu was du willst. Aber verrate ja keiner Menschenseele, dass du das alles von mir gehört hast.«
Beide wussten genau, dass ohnehin kein anderer infr a ge kam. Niemand sprach mehr als das Nötigste mit Ailis, und ganz gewiss würde keiner ihr ein Geheimnis anve r trauen, wenn der Graf dies unter Strafe gestellt hatte.
Andererseits galt Erland als verschlossen und sonde r bar, einer, der keinen an sich heranließ. Als er Ailis als Lehrmädchen angenommen hatte, hatten viele in der Burg die Stirn gerunzelt – zwei Sonderlinge von morgens bis abends unter einem Dach, das konnte nicht gut gehen. Doch es war gut gegangen und mancher beäugte die K a meradschaft der beiden mit Argwohn. Die meisten wart e ten nur darauf, dass ein Unglück geschah. Einige hatten Ailis vor dem Schmied gewarnt, hatten ihr prophezeit, dass er ihr eines Tages mit seinem Hammer den Schädel einschlagen würde.
Würde ein solcher Mensch seine Stellung, vielleicht sogar seine Freiheit aufs Spiel setzen, nur um die Neugier eines jungen Mädchens zu befriedigen? Damit konnte ni e mand rechnen.
Ailis stand auf, und ehe Erland sich versah, fiel sie ihm um den Hals, barg ihr G e sicht an seiner Schulter und weinte. Alles stieg wieder in ihr auf, der Diebstahl der Münze, ihr Einbruch bei Nacht in die Werkstatt, aber auch die Wärme, die dieser K o loss von einem Mann ihr entgegenbrachte, und die Liebe, die sie für ihn empfand.
Erland zögerte einen Moment, dann hob er zögernd die Hand und tätschelte sanft ihren Rücken.
»Ist ja gut«, flüsterte er sanft, »ist schon gut.«
Sie wollte irgendetwas sagen, um ihm klarzumachen, was sie für ihn empfand und wie dankbar sie ihm war, doch alles, was sie hervorbrachte, waren leise Schluc h zer. Sie wünschte sich, alle könnten sie so sehen, könnten erfahren, was für ein guter Mensch Erland war, wie u n recht ihm all jene taten, die ihn für einen Unhold hielten, mit dem man die Kinder erschreckte. Sei still, sonst kommt Erland und holt dich. Iss deine Schale leer, sonst wirft Erland dich ins Schmiedefeuer. Wenn all diese Na r ren nur wüssten, wie er in Wirklichkeit war! Aber Ailis verstand auch, dass Erland froh war über das Bild, das die anderen von ihm hatten. Sie ließen ihn in Ruhe, und das war für ihn das Wichtigste.
Er streichelte ungeschickt ihr Haar, viel zu
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