Loreley
gehört. Wer weiß, was aus deiner Schwester geworden ist, Fee. Vie l leicht wandelt sie heute selbst über Faeries grüne Hügel, an der Seite irgendeines Elfenprinzen.«
Sie verzog das Gesicht zu einer angewiderten Grima s se. »Du hast gesagt, dass du hoffst, sie sei tot. Das klang nicht, als würdest du glauben, es ginge ihr gut, wo immer sie auch sein mag. Grüne Hügel und Elfenprinzen – Her r gott, Vater, du machst dir doch nur selbst etwas vor!«
Er zuckte unter jedem ihrer Worte zusammen. »Tats a che ist, dass die Überfälle aufhörten. Keine zerstörten Gehöfte mehr, keine ausgebrannten Dörfer. Das Opfer deiner Schwester hat das Tor wieder geschlossen.«
»Dann darf ich mich wohl glücklich schätzen, dass es bis heute dabei geblieben ist«, entgegnete sie bösartig. »Sonst würde ich selbst wahrscheinlich auch schon längst über grüne Hügel wandeln, nicht wahr?«
Darauf wusste er keine Antwort. Er starrte nur schweigend an ihr vorbei zum Fenster, hinter dem ve r schwommen d ie nächtliche Schneelandschaft im Mon d schein zu erkennen war.
»Eines noch«, sagte sie schließlich. »Du warst doch schon fort, als all das geschah. Wie kannst du so sicher sein, dass das, was Onkel und Tante dir erzählt haben, die Wahrheit ist?«
Er betonte seine Worte wie ein Schuldbekenntnis: »Ich habe deine Tante einmal g e liebt, Fee. Sie würde mich niemals belügen. Ich hätte um ihre Hand angehalten, wenn Wilhelm nicht auf seinem Recht als Älterer besta n den hätte.«
Fee wollte ihn dafür hassen, ihn verachten. Doch sie spürte in sich nichts als Leere. Wie hatte sie je annehmen können, ihn nach so kurzer Zeit zu kennen? Und wie hä t te sie Mitleid empfinden können für ihre Mutter, die e i nem Mann zur Frau gegeben wo r den war, der eigentlich eine andere liebte – wo doch Fee nicht die leiseste Eri n nerung an sie besaß? So sehr Fee auch versuchte, um i h rer Mutter willen verletzt zu sein, es gelang ihr nicht. Das alles waren Geschichten über Fremde, über Menschen, die vor vielen Jahren gelebt hatten. In gewisser Weise galt das auch für ihren Vater. Der Mann, der sie gezeugt hatte, war zusammen mit seiner Frau gestorben. Und mit der Schwester, von der Fee nichts wusste, nicht einmal den Namen.
»Deine Mutter war der wichtigste Mensch in meinem Leben«, sagte er. »Ich habe sie geliebt, ehrlich und au f richtig. Auf andere Art als deine Tante. Auf eine bessere Art, glaube ich.«
Fee verstand nicht, was er damit meinte, und es war ihr auch gleichgültig.
Er versuchte nicht, sie zurückzuhalten, als sie zur Tür ging und sie öffnete.
»Gute Nacht, Vater«, sagte sie im Hinausgehen. Sie sah a us dem Augenwinkel, wie traurig und einsam er dastand. Jetzt tat er ihr Leid, so wie sie selbst sich leid tat, aber sie brachte nicht die Kraft auf, sich noch einmal zu ihm umzudrehen.
Sie zog die Tür hinter sich ins Schloss und lief davon, lief, so schnell ihre Beine sie trugen, doch sie konnte nicht verhindern, dass etwas von ihr zurückblieb, bei ihm, bei der Vergangenheit. Irgendwo in Faerie.
Am nächsten Abend trat Ailis voller Unruhe durch das Portal des Haupthauses. Mägde und andere Bedienstete eilten über die Gange, trugen hölzerne Platten mit gebr a tenem Wild, Gemüse und eingemachten Früchten. Ailis folgte ihnen zum Rittersaal. Die Wohlgerüche der Spe i sen waren betörend und beinahe verdrängten sie Ailis’ Unbehagen. Doch je näher sie dem Saal kam, desto gr ö ßer wurden ihre Sorgen. Dabei hätte sie nicht einmal zu sagen vermocht, über was genau sie sich sorgte. Fee hatte ihr mittags von einer ihrer Zofen ausrichten lassen, dass man sie zur Teilnahme am abendlichen Mahl der Grafe n familie einlud. Seit der vergangenen Nacht hatte Ailis ihre Freundin nicht mehr gesehen, und ihr Gefühl sagte ihr, dass es vielleicht doch falsch gewesen war, Fee alles zu erzählen. Was, wenn der Graf tatsächlich zu Fees Be s tem gehandelt hatte, als er die Ereignisse geheim hielt? Er war schon einmal im Recht und Ailis im Unrecht g e wesen, damals, als er das Mädchen auf dem Lurlinberg einkerkern ließ. Er hatte gewusst, welche Macht dieses Wesen besaß. Und doch hatte Fee gegen seinen Befehl verstoßen und war dorthin zurückgekehrt, und wer weiß, was geschehen wäre, wenn sie sich nicht aus dem Bann des Mädchens hätte lösen können.
Indem sie Fee nun die Wahrheit erzählt hatte, hatte sie sich zum zweiten Mal gegen den Willen des Grafen au f gelehnt, und abermals bereute sie es. Sie
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