Loreley
grob, und doch voller Zuneigung, etwas, das er vielleicht noch bei keinem anderen Menschen getan hatte. Und dann, als er sah, dass Ailis sich kaum beruhigen ließ und immer noch nach Worten rang, sagte er leise:
»Nun geh schon zu deiner Freundin und erzähl ihr die ganze Wahrheit.«
Ailis löste ihr Gesicht von seiner gewaltigen Schulter und sah mit tränenverschle i ertem Blick zu ihm auf. Ihre Lippen bebten, doch er kam ihr zuvor:
»Kümmere dich nicht um mich. Tu das, was du für richtig hältst. Du allein! Wenn es einen einzigen Rat gibt, den ich dir geben kann, dann diesen: Schere dich niemals um das, was andere sagen. Niemals.«
Sie lachte, obwohl immer noch Tränen über ihre Wa n gen rollten. »Aber daran hältst du dich doch selbst nicht.«
»Ich werde alt. Ich darf gegen meine eigenen Ratsc h läge verstoßen, wenn mir d a nach ist.«
»Du bist großartig.«
Er schüttelte den Kopf. »Nur dumm. Und nun lauf endlich!«
Sie ließ ihn nur widerwillig los, zögerte noch einen Moment, hielt seinen Blick so lange fest wie nur mö g lich, dann hauchte sie ihm einen Kuss auf die bärtige Wange und rannte zur Tür. Im Dunkeln lief sie über den menschenleeren Burghof, ins Weiberhaus, vorbei an ihrer Kammer und hinüber zu Fees Kemenate.
Fee sah nicht aus, als hätte sie bereits geschlafen. Ihr Bett war unberührt.
Ailis drängte atemlos an ihr vorbei ins Zimmer. »Mach die Tür zu und komm her. Setz dich. Hier, neben mich. Und jetzt hör mir ganz genau zu.«
Fee schlug mit der Faust gegen die Tür ihres Vaters, bis ihre Knöchel schmerzten. Selbst als sie es im Inneren rascheln hörte und der Riegel zurückgeschoben wurde, hämmerte sie weiter.
Sie wartete nicht, bis er die Tür ganz aufgezogen hatte, s chob sich einfach durch den Spalt, fuhr herum und sah ihm fest in die Augen.
»Ich dachte, du bist ehrlich zu mir!«, brüllte sie ihn an. »Ich habe dir geglaubt. Ve r dammt, ich dachte wirklich, wir vertrauen einander!«
Seine Überraschung schwand schlagartig. Er wurde bleich und schloss erst einmal die Tür.
»Du hast mich angelogen!« Sie war so aufgebracht wie nie zuvor in ihrem Leben. Als sie ihn am Abend ve r lassen hatte, war sie so glücklich, so gelöst gewesen. Sie hatte geglaubt, alles habe sich zum Besten entwickelt. Er war ihr Vater, und sie war endlich bereit gewesen, das zu akzeptieren. Ihn zu akzeptieren.
»Ich habe nicht gelogen«, sagte er ruhig. »Nicht ein einziges Wort war gelogen.«
»Du hast mir das Wichtigste verschwiegen!«
»Wer hat es dir gesagt?«
»Du warst es nicht – und das ist das Schlimme daran!«
Diesmal ging er nicht im Zimmer auf und ab, er wich ihr auch nicht mehr aus. O f fenbar war er bereit, sich den Gespenstern seiner Vergangenheit ein für allemal zu ste l len.
»Was hat man dir erzählt?«, fragte er.
»Mehr als genug. Dass ich eine Schwester hatte. Und auf welche Weise meine Mutter gestorben ist.« Sie spü r te, wie eine Hitzewelle an ihrem Körper emporrollte gleich einem Ring aus Feuer. »Zum Teufel, du hättest es mir sagen müssen!«
»Dein Onkel hat mich gebeten, es nicht zu tun.«
»Und ausgerechnet du respektierst seine Wünsche?«
Er wurde jetzt zornig; das sah sie ihm deutlich an, aber es kümmerte sie nicht.
»Du hast ja keine Ahnung, wie sehr ich ihn verachte für das, was er getan hat!«, fuhr er sie an.
»Was er getan hat?«, fragte sie mit aufgerissenen A u gen. »Mein Gott, ich glaube um deinen Bruder geht es hier am allerwenigsten!«
»So? Dann hat man dir offenbar nur die Hälfte e r zählt.«
Verunsichert legte sie den Kopf schräg. »Was meinst du?«
»Du weißt, dass du eine Zwillingsschwester hattest. Und du weißt, wie ihr zur Welt kamt, ja?«
Fee nickte stumm.
»Hat dir auch jemand erzählt, was mit ihr geschehen ist?«
»Sie ist gestorben.«
»O ja, Fee, ich bete zu Gott, dass sie tot ist! Aber ich fürchte, er erhört mich nicht.« Seine Stimme drohte sich einen Moment lang zu überschlagen, so erregt war er. Müh e voll mäßigte er seine Wut. »Deine Schwester, Fee, ist nicht gestorben. Zumindest weiß niemand das mit S i cherheit. Du willst die Wahrheit wissen? Willst du das wirklich?«
Sie hatte plötzlich Angst, ein wenig vor seinem rase n den Zorn, aber vielmehr noch vor dem, was er sagen würde. Trotzdem nickte sie erneut.
»Sie wurde geopfert«, sagte er hart. »Man hat sie der Grünen Königin als Opfer dargebracht – Titania, der Herrscherin der Elfen.«
Fee blinzelte ihn an. »Du meinst, sie
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