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Loreley

Titel: Loreley Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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die Stirn in Falten und wandte sich wieder ihrem E s sen zu. Sie speiste weiter, als sei nichts geschehen, doch ihr Blick verriet, dass es in ihrem Inneren arbeitete. Vie l leicht, weil sich die Dinge anders entwickelt hatten, als sie vorhergesehen hatte.
    Fee wandte sich um und ging zur Tür. Ailis kam es vor, a ls bewege sie sich unn a türlich steif, so als hätte sie Mühe, ihren Körper, vor allem aber ihren Stolz länger aufrechtzuerhalten.
    Ich muss mit dir reden, flehten Ailis’ Augen sie an, aber Fee vermied es, ihren Blick zu kreuzen.
    Du hast Angst, dachte Ailis. Angst wovor? Vor deiner Zukunft, die du dir selbst ausgesucht hast? Oder Angst vor mir, deiner besten Freundin, die du gerade betrogen hast?
    Fee öffnete das Portal und ging hinaus.
    Ailis hielt es nicht mehr auf ihrem Stuhl. Sie sprang auf, kümmerte sich nicht lä n ger um Sitte und Anstand, verließ den Tisch ohne Abschied und rannte Fee hinte r her.
    »Warte!«, rief sie ihr draußen auf dem Gang nach. »Fee, warte auf mich!«
    Fee blieb stehen, drehte sich aber nicht zu ihr um. »Bitte«, sagte sie sehr leise, und ihre Stimme klang b e legt. »Lass mich. Nicht jetzt.« Und dann ging sie einfach weiter.
    Doch damit gab Ailis sich nicht zufrieden. Sie lief an ihr vorbei und verstellte ihr den Weg. Fackellicht von den Wänden spiegelte sich auf ihren Zügen, tauchte be i de Mädchen in zuckenden Feuerschein. Die Wächter am Eingang des Rittersaals spitzten die Ohren, aber sie w a ren zu weit entfernt, um zu verstehen, was gesprochen wurde.
    »Bitte«, sagte Fee noch einmal, und stummes Flehen lag in ihrem Blick. Eine Träne hatte eine glitzernde Spur über ihre Wange gezogen, funkelte jetzt an ihrem Kinn wie ein Edelstein.
    »Sag mir, warum du es tust«, verlangte Ailis und sah in Fees Schmerz das Spiegelbild ihrer eigenen Empfi n dungen.
    Fee lachte verbittert auf, blinzelte eine weitere Träne aus ihrem Auge und wies mit übertriebener Gestik auf die steinernen Wände des Flurs. »Hast du von all dem nicht genug?
    Von diesem Gemäuer und den Lügen, all dem fa l schen, hinterhältigen Gerede?«
    »Du gibst einfach auf«, gab Ailis zurück. »Du gibst auf und verschwindest von hier. Das ist keine Lösung, sondern nur eine Flucht!«
    »Und das findest du armselig, nicht wahr?«
    »Ich finde es ungerecht. Mir gegenüber.«
    Fee nickte traurig. »Ich weiß. Aber ich kann nicht mehr anders. Ich gehe zu Baan.«
    »Glaubst du, er wird dich nicht belügen?« Ailis hörte sich selbst immer lauter we r den, immer verzweifelter. »Man sagt, alle Männer tun das.«
    Fee lächelte milde. »Was wissen wir beide denn schon von Männern, Ailis?« Dann drängte sie sich sanft an ihr vorbei und ließ sich von einem herbeieilenden Diener ihren Fellumhang reichen.
    Ailis riss ihn ihr wütend aus der Hand. »Versteck dich nicht vor mir! Und schau mich gefälligst an!«
    Fee nahm sie an den Händen, beugte sich vor und küsste sie auf den Mund. Sehr zärtlich, sehr lange. »Ich bin jetzt eine Braut, Ailis«, sagte sie sanft. Sie warf sich den Mantel um die Schultern. »Jemand wartet auf mich. An einem anderen Ort. Ich kann dir gar nicht sagen, was für ein Gefühl das ist.«
    Und damit ließ sie das Portal zum Hof öffnen und trat hinaus in den Schneesturm.

9. Kapitel
     
    D er Himmel war so weiß, dass sich die verschneiten Bergkuppen kaum mehr von ihm abhoben. Trotzdem fiel seit zwei Tagen kein Neuschnee. Die Luft war bitterkalt, und ein feiner, kaum spürbarer Wind wirbelte Eiskristalle vom Boden und von den Bäumen, fegte sie in sanften Wogen über den Berghang.
    Ailis kämpfte sich allein durch den Schnee bergauf, vorüber an schwarzen Baumg e rippen, die mit knotigen Ästen aus dem blendenden Weiß ragten. Von hier aus hatte sie freie Sicht auf den Fluss; er war völlig vereist, seine Oberfläche unter einer Schneed e cke begraben. Ein Fremder hätte ihn für den verschneiten Boden einer bre i ten Schlucht halten können, kein Anzeichen wies mehr darauf hin, dass unter dem Schnee die Wa s sermassen tobten. Lediglich die Stromschnellen unterhalb des Lu r linberges hatte das Eis nicht bändigen können, sie spr u delten noch heftiger als sonst durch eine graue Öffnung im Schnee.
    Ein voll beladener Hundeschlitten jagte den Verlauf des Stroms entlang nach S ü den, machte um den Fuß des Lurlinberges einen Bogen und verschwand dann aus A i lis’ Blickfeld; offenbar ein wackerer Flößer, der sich vom Winter nicht unterkriegen ließ. Ailis beneidete ihn um

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