Loreley
die Leichtigkeit, mit der er von einem Ort zum anderen zog. Sie wünschte sich mit jedem Tag mehr, selbst eine Reisende zu sein, die m al hier, mal dort unterschlüpfte, aber nie lange genug blieb, um Wurzeln zu schlagen. Denn mit den Wurzeln kamen Vertrautheiten, kamen Menschen, die einem etwas bedeuteten. Me n schen, die einen verletzten, wenn man nicht Acht gab.
Es war nicht wie damals, als sie und Fee einander die Freundschaft aufgekündigt hatten. Ailis spürte keinen wirklichen Groll, und insgeheim stellte sie sich oft die Frage, ob sie es nicht genauso wie Fee gemacht hätte, wenn sich ihr die Möglichkeit geboten hätte. Früher oder später, sagte sie sich, wäre es ohnehin so gekommen: Fee wäre an den Hof des Königs gegangen, um dort zur G e sellschafterin erzogen zu werden.
Doch die Ehe mit Baan war etwas anderes. Er würde sie besitzen, ihr langes Haar und ihren Leib unter seinen Händen spüren. Ihre zarten Lippen küssen.
Ailis war eifersüchtig, so viel gestand sie sich ein. Sie liebte Fee mehr als jeden a n deren Menschen auf der Welt. Liebte sie mehr, als sie je auszusprechen wagte.
Acht Tage waren seit jenem unseligen Abendmahl vergangen und seither hatten Ailis und Fee kaum ein Wort gewechselt. Hin und wieder waren sie einander kurz bege g net, aber Ailis spürte, dass Fee ihr aus dem Weg ging. Sie kannte auch den Grund: Fee fürchtete, Ailis könnte ihr ihre Entscheidung ausreden. Möglich, dass Fee ihren Schritt ohnehin längst bereute. Doch sie war viel zu sehr Dame, als dass sie ihre Selbstzweifel offen zur Schau getragen hätte.
Der Bote war zurückgekehrt, mit der Nachricht, dass Baan auf dem Weg hierher war, um seine Braut in Em p fang zu nehmen. Alles, was Ailis blieb, war den beiden viel Glück zu wünschen. Dabei wünschte sie in Wahrheit zumindest dem Ritter die Pest an den Hals.
Der Weg durch den hohen Schnee war beschwerlich, zumal sie nie sicher sein konnte, was sich darunter b e fand. Hier oben, auf den Bergkuppen südlich der Burg, gab es keinen Pfad, dem sie folgen konnte. Mitunter hö r te sie unter ihren Füßen Zweige brechen, einmal wäre sie fast in ein Loch gestürzt, das der Schnee verborgen hatte. Es war ein närrischer Einfall gewesen, hierher zu ko m men, und anfangs bereute sie ihn bei jedem Schritt. Doch je näher sie ihrem Ziel kam, desto zuversichtlicher wurde sie, dass ihre Mühen vielleicht doch einen Sinn hatten. Es blieb verrückt, gewiss, aber irgende i nen wahren Kern mussten die alten Legenden doch haben.
Du klammerst dich an ein Ammenmärchen, mahnte ihre innere Stimme sie. Aber, immerhin, sie stellte sich ihrem Kummer, statt wie Fee einfach davonzulaufen.
Wenn es irgendeine Möglichkeit gab, die Dinge zum Guten zu wenden, dann wollte sie sich darauf einlassen. Im Augenblick fand sie das mutig und kühn, aber sie wusste auch, dass es ihr später albern und ausgesprochen kindisch vorkommen würde. Noch aber war jetzt, und dementsprechend handelte sie.
Das Weiße Pferd musste nun ganz in der Nähe sein. Das Große Weiße Pferd, eing e lassen in den Berg, ein gewaltiger Umriss aus Flusskieseln, größer als ein Haus und doch gut versteckt. Vom Rhein aus war es nicht zu erkennen, das verhinderten die Wipfel des bergabwärts gelegenen Waldes. Auch die Möglichkeit, durch Zufall darauf zu stoßen, war gering, denn die Felsen, die das Pferd zu drei Seiten hin begrenzten, waren schroff und verhießen dahinter weder Weideland noch Anbauflächen für Wein oder Getreide. Wanderer verschlug es gar nicht erst in diese abgelegene Gegend, sie nahmen meist den geraden Weg zur Burg und erkundeten nicht die Umg e bung.
Die Menschen, die hier lebten, kannten das Pferd n a türlich. Jeder war zumindest als Kind schon einmal hier oben gewesen, denn es galt weithin als Mutprobe, sich dem unheimlichen Kieselfeld zu nähern, das in grauer Vorzeit in Gestalt einer schlanken Schimmelstute ang e legt worden war. Wer es geschaffen hatte und aus we l chem Grund, war längst vergessen. Nicht einmal die Ä l testen wussten darauf eine Antwort. Geister, vermuteten die einen, Hexen, sagten andere. Und mancher machte gar die alten Götter selbst dafür verantwortlich.
Vielleicht, dachte Ailis, hatten sie ja alle Recht, jeder ein wenig. Eine sonderbare Stimmung lag über diesem Teil der Uferberge, das ließ sich nicht abstreiten. Der Wind flüsterte in einem Labyrinth aus Felsen, die sich mehr als mannshoch aus den Bergwi e sen erhoben, und an Sonnentagen schienen die Schatten
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