Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Loreley

Titel: Loreley Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
Vom Netzwerk:
dieses versteine r ten Waldes ein geisterhaftes Eigenleben zu entwickeln, wenn sie mal in die eine, mal in die andere Richtung wanderten, scheinbar unbeeinflusst vom Licht am Hi m mel. Erst wer die Rückseite der Felsen erreichte, sah das Pferd auf einer Wiese vor sich liegen.
    Ailis durchquerte den steinernen Irrgarten ohne Furcht vor Teufeln und Wiedergä n gern, die manche schon hier oben gesehen haben wollten. Sie war mehr als einmal hier gewesen, auch mit Fee, und die Felsen schreckten sie nicht länger. Gewiss, das Säuseln der Winde war b e eindruckend in seiner Klarheit, und die steinernen Gebi l de – manche scharf und spitz wie Dolchklingen aus B a salt, andere bucklig wie verwachsene Fabe l wesen – konnten einem einen gehörigen Schrecken einjagen, wenn man unvermittelt zu ihnen aufblickte. Ailis wusste das und schaute daher die meiste Zeit zu Boden. Wenn außer ihr jemand hier oben wäre, müsste s ie Spuren en t decken. Doch der Schnee war unberührt. Sie war völlig allein.
    Sie ließ die Felsen hinter sich und hätte das Pferd jetzt eigentlich sehen müssen. Insgeheim hatte sie gehofft, es habe den Schnee zum Schmelzen gebracht, denn das w ä re vielleicht ein Beweis jener Kräfte gewesen, die man ihm nachsagte.
    Doch die Wiese erstreckte sich vor ihr als weites Schneefeld und nicht der winzig s te Hinweis verriet die genaue Lage des Pferdes unter der Eisdecke. Ailis stapfte dorthin, wo sie den Schädel vermutete, doch als sie den Schnee mit den Händen beiseite schaufelte, fand sie da r unter nichts als plattgedrücktes, gefrorenes Gras. Sie ging einige Schritte bergab, näher an den Waldrand heran, und hier hatte sie nach mühsamem Graben mehr Glück: Der Boden bestand aus faustgroßen weißen Steinen, viele Schichten übereinander, die wer-weiß-wie-tief in die E r de reichten. Sie grub ein wenig weiter, bis sie erkennen konnte, dass sie sich auf dem hinteren Teil des Pferdes befand. Sie versuchte, sich seine genaue Lage unter dem Schnee vorzustellen, wie ein gewaltiger, weißer Schatten, der aus geheimnisvollen Gründen am Boden haften geblieben war.
    Sie entschied, dass es nicht nötig war, das ganze Pferd freizuräumen, und so schuf sie lediglich ein Loch, groß genug, um sich darin im Kreis zu drehen.
    Die Überlieferung besagte, dass die alten Götter de m jenigen, der sich auf dem Kö r per des Pferdes dreimal um sich selbst drehte, einen von sieben Wünschen erfüllten.
    Ailis sah sich ein letztes Mal nach heimlichen Beo b achtern um, dann tat sie, we s wegen sie hergekommen war. Sie drehte sich einmal, zweimal, dreimal, sehr lan g sam und mit Bedacht, weil sie annahm, dass übermäßige Hast die Götter ungnädig stimmen würde. Dann ging sie in dem Loch im Schnee in die Hocke und legte beide Hände auf die Kieselsteine am Boden; sie waren mit e i ner dünnen Eisschicht überzogen, die hoffentlich die Wirkung des Zaubers nicht schmälern würde – falls es denn wirklich ein Zauber war.
    Sie sprach in Gedanken siebenmal denselben Wunsch aus und war sich dabei durchaus bewusst, dass dies ein recht offenkundiger Betrug war. Der Haken der ganzen Sache war schließlich, dass man nicht wusste, welcher der sieben Wünsche erfüllt wurde, und man daher g e zwungen war, besonnen zu wählen.
    Ailis aber hatte nur einen einzigen Wunsch: Fee sollte schnellstmöglich zu ihr z u rückkehren.
    Ihr war klar, dass an Fees Abreise nichts mehr zu ä n dern war – es sei denn, das Eis irgendeines Flusses gab unter den Hufen von Baans Pferd nach und riss ihn in die Tiefe, was sicher ein verlockender Gedanke war, wenn auch keiner, der bei dieser Kälte Erfolg versprechend schien.
    Nein, Fee würde bald schon an der Seite ihres Bräut i gams davonziehen. Doch wer vermochte schon mit S i cherheit zu sagen, dass die beiden sich nicht bald streiten, ei n ander gar hassen würden? Würde Fee dann nicht auf schnellstem Wege heimkehren?
    Dumm, raunte es in Ailis’ Gedanken. Dumm und g e radezu boshaft. Warum gönnst du Fee nicht das Glück, das sie sucht? Schließlich ist sie deine beste Freundin.
    Weil sie es anderswo sucht, war die simple Antwort. Nicht bei mir!
    Du bist so eifersüchtig wie die Konkubinen des K ö nigs. Und ebenso heimtückisch. Ein böses, kindisches Weibsstück ist aus dir geworden.
    Ailis formte zornig einen Schneeball und schleuderte ihn mit aller Kraft gegen e i nen der Felsen. Er zerbarst in einer weißen Wolke.
    Kindisch, hallte es in ihrem Kopf.
    Und wie ein Kind sank sie in den Schnee

Weitere Kostenlose Bücher