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Loreley

Titel: Loreley Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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war nahe daran, sich einzugestehen, dass er in manchen Dingen vielleicht ein weiserer Mann war, als sie wahrhaben wollte.
    Sie wunderte sich vor allem, dass Fee nicht selbst in die Schmiede gekommen war, um sie einzuladen. Das passte überhaupt nicht zu ihr. Was dachte sie sich dabei, Ailis wie einen Lakaien herbeizubestellen? Auf das E s sen an der Tafel des Grafen konnte sie gut und gerne ve r zichten, aber sie konnte nicht von dem Gedanken lassen, dass es einen wichtigen Grund geben musste, wenn Fee solchen Wert auf ihre Anwesenheit legte. Ailis hatte seit Ewigkeiten an keinem Bankett der Grafenfamilie mehr teilgenommen, und Fee wusste, dass sie es nicht vermis s te.
    Nein, kein Zweifel, Fee hatte irgendetwas vor.
    Als Ailis sie in ihrer Kemenate aufgesucht und ihr a l les erzählt hatte, war Fee sehr ruhig gewesen. Zu ruhig. Ihr Gesicht war starr, ihre Augen glasig geworden, als sähe sie durch Ailis und die Mauern der Burg hindurch an einen anderen, weit entfernten Ort. Ailis hatte erwa r tet, dass sie verzweifelt sein würde oder zornig, doch di e se sonderbare Verschlossenheit war ihr unheimlich. Erst als sie gegangen war, hatte sie im Hinausg e hen bemerkt, dass Fees Abwesenheit in Wut umschlug. Ailis hatte sie beruhigen wo l len, doch Fee hatte sie fortgeschickt. Sie wolle jetzt allein sein, hatte sie gesagt. Bald darauf hatte Ailis beobachtet, wie Fee ihre Kemenate verließ und zum Haupthaus lief. Sie konnte sich vorstellen, wen sie dort aufsuchen wollte.
    Der Graf und sein Weib saßen bereits auf ihren hoc h lehnigen Stühlen an der Stirnseite der Tafel. Ailis ve r beugte sich vor beiden, grüßte ehrerbietig und ließ sich von einem Diener einen Platz am anderen Ende des la n gen Tisches zuweisen. Sie spürte, wie ihr die Blicke der beiden auf dem Weg dorthin folgten, und auch als sie endlich saß, beobachteten sie der Graf und die Gräfin unverhohlen.
    »Fee hat uns mitgeteilt, dass sie deine Anwesenheit wünscht, Ailis«, sagte die Gräfin. »Versäumt hat sie a l lerdings, uns den Grund zu nennen. Es ist lange her, seit du zuletzt mit uns gegessen hast.«
    Ailis überlegte fieberhaft, was sie darauf erwidern könnte, als im selben Augenblick Fees Vater den Saal betrat. Er wirkte unausgeschlafen, hatte dunkle Ringe unter den Augen, aber sein Haar war frisch gekämmt, seine Kleidung sauber und straff. Ailis sprang sofort auf, verbeugte sich und ließ sich ihm von der Gräfin vorste l len. Eberhart bedachte sie mit einem flüchtigen Lächeln, dann setzte er sich auf seinen Platz und beachtete sie nicht weiter.
    Also hat er mich in der Nacht am Ufer nicht erkannt, dachte Ailis erleichtert. Ihr Herz schlug so schnell, dass sie das Gefühl hatte, jeder hier müsse es bemerken.
    Fee kam zu spät, aber noch hatte der Graf nicht das Zeichen zum Beginn des Mahls gegeben. Ailis’ Blick wanderte über die aufgetragenen Speisen. In der Mitte der Tafel dampfte ein Topf mit Hühnersuppe. Unweit davon türmten sich mehrere Steinbrotfl a den, daneben stand eine Schüssel mit Griebenschmalz. Als Hauptg e richt gab es Krustenrippe mit ausgebackenen Eiertei g stäbchen und Rosenkohl, zudem Kapaunenpastete mit Pflaumensauce. Ein Teller mit weißem Schafskäse stand nahe der Mandeltorte, die vor allem für die Damen g e dacht war.
    Ailis erinnerte sich an die ausgehungerten Bauern, die den gräflichen Tross auf dem Weg zur Burg Reichenberg aufgehalten hatten, und ein Schauder lief ihr über den Rücken. Sie h atte kein wirklich schlechtes Gewissen a n gesichts der auf getafelten Schlemmereien, dennoch ve r spürte sie leichtes Unwohlsein. Vielleicht lag das auch nur daran, dass Fee noch immer nicht aufgetaucht war und Ailis’ Anspannung mit jedem Atemzug größer wu r de.
    Sie sah dem Grafen an, dass auch er allmählich u n gehalten wurde, doch gerade, als sie dachte, er werde die Tafel auch ohne seine Nichte eröffnen, erschien Fee im Portal. Sie hatte ihr schönstes Kleid angelegt. Unter e i nem eng anliegenden Obergewand mit weit geschnitt e nen Ärmeln, die bis über ihre Hände reichten, trug sie einen Rock mit Schleppe, eierschalenfarben und mit go l denen Stickereien durchwirkt. Ihr langes Haar war zu Zöpfen geflochten, die sie in engen Schlingen am Hi n terkopf aufgesteckt hatte. Ihre Wangen hatte sie mit R o senpuder leicht gerötet, ebenso ihre Lippen. Sie sah älter aus als sonst, eine reife, strahlend schöne Frau.
    Ailis kam sich in ihrer Anwesenheit klein und unb e deutend vor, obgleich auch sie ihre beste

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