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Loreley

Titel: Loreley Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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stur!«
    Er seufzte. »Es gibt keine Naddred mehr, Ailis. Soll der Kerl reden, was er will, es ändert nichts daran. Sie haben irgendwann an Bedeutung verloren, schon vor la n ger, langer Zeit. Ich bin nur ein Schmied, und ich weiß nicht viel über das, was vergangen ist, aber so viel ist sicher: Die Naddred lebten zu einer Zeit, als es noch ke i ne Kirc h türme und Pfaffen und vor allen Dingen keine Heilige Inquisition gab.«
    »Aber warum sprichst du so ungern darüber? Und w a rum sollte ich Angst haben? Das ist doch albern!«
    Er hob eine Hand und strich damit über ihr blondes Stoppelhaar. »Du bist ein kl u ges Mädchen, Ailis. Und du bist stärker und geschickter, als du aussiehst, dein neues Schwert hat das bewiesen. Aber du lässt dich auch zu schnell von irgendwelchen Ideen auf dumme Gedanken bringen.«
    »Was hat das mit den Naddred zu tun?«
    Er atmete tief durch, ein Zeichen dafür, dass er sich geschlagen gab. »Falls es wir k lich noch – oder wieder – Naddred geben sollte, dann werden sie herkommen. Zu uns, Ailis.«
    »Aber warum – «
    »Es ist der Lurlinberg«, unterbrach er sie. »Er war ihr Allerheiligstes, das Herz i h rer Macht. Falls die Naddred tatsächlich zurückgekehrt sind, werden sie dorthin g e hen.« Sein Blick wanderte zu dem zerfetzten Gitter über der Tür. »Und spätestens dann we r den wir alle uns fragen müssen, was wohl dort oben ist, das sie herbeigelockt hat.«
     
    In der Nacht träumte Ailis vom Lurlinberg.
    Im Mondlicht sah sie ihn vor sich, eine steile Felsnase, finster vor einem pec h schwarzen Himmel. Über ihm, im Abgrund der Nacht, regte sich etwas. Ein dunkler Umriss schoss aus dem Dunkel zwischen den Gestirnen heran, flügelschlagend und gewaltig, mit einem Schnabel so groß wie ein Schiffsrumpf. Immer größer wurde der Ri e senvogel, sein Gefieder sträubte sich flatternd im Nach t wind, seine Krallen öffneten und schlossen sich, auf und zu, immer wieder. Die Spitze des Lu r linberges reckte sich ihm entgegen, verjüngte sich wie ein steinerner Dorn. Der Vogel raste heran, kam näher, immer näher, und als der Mond in seinen Augen glitzerte, riss er die riesigen Schwingen empor und rammte mit der gefiede r ten Brust auf den Stachel des Berges, spießte sich auf und blieb mit schlaffen Gliedern auf der Spitze stecken.
    Ailis erwachte am frühen Morgen, aber es war nicht der Traum, der sie aufgeweckt hatte. Wieder war es der Gesang. Und sie wusste, heute galt er ihr. Ihr ganz allein.
    Sie schwang ihre nackten Beine über die Bettkante. I h re bloßen Fußsohlen berüh r ten den Boden, doch ihr war nicht kalt. Eine geisterhafte Wärme erfüllte ihren ganzen Körper, sogar ihre Gedanken. Der Traum war nicht lä n ger schrecklich. Er war eine Einladung, zum Berg zu kommen, genau wie der große Vogel.
    Der Gesang des Mädchens war angenehm. Er nahm Ailis alle Entscheidungen ab, er sagte ihr, was zu tun sei. Das machte alles so einfach. Sie fühlte sich sehr leicht, sehr unbeschwert, ganz wie ein Kind, das von seinen E l tern an der Hand geführt wird.
    Ihre Eltern hatten sie nie an der Hand geführt. Das Mädchen aber war ihre Freu n din, daran bestand nun kein Zweifel mehr. Ailis war sehr glücklich, jemanden zu h a ben, der sich so um sie kümmerte. Es gab ihr das Gefühl, gebraucht zu werden. Sie hatte einen Auftrag zu erfüllen, der über alle Maßen wichtig war.
    Sie zog sich an und schlich die Treppen des Weibe r hauses hinunter. Hinter ma n chen Türen regten sich schon einige der Bewohnerinnen. Die Zofen mussten aufstehen, um die Kleidung der Gräfin bereitzulegen.
    In Windeseile überquerte Ailis den Hof und lief zum Eingang der Schmiede. Es war noch dunkel, aber es wü r de nicht mehr lange dauern, bis die Dämmerung über die Zinnen kroch. Ohne einen Laut öffnete sie die Tür der Werkstatt. Die Glut in der Esse verbreitete Wärme, wo h lig und einladend. Hinter dem Vorhang an der Rückseite e r klang Erlands heiseres Atmen. Er schlief.
    Diesmal war alles ganz einfach. Flugs kletterte sie die Balken hinauf. Sie fand die kleine Kiste noch genau dort, wo sie schon beim letzten Mal gestanden hatte. Ailis öf f nete sie ohne Ehrfurcht, nahm den Schlüssel heraus und klappte den Deckel wieder zu. Dann hangelte sie sich vorsichtig nach unten, bis sie wieder festen Boden unter den Füßen spürte. An der Tür horchte sie noch einmal auf Erlands Atemzüge. Sie klangen unverändert. Ailis überlegte nur einen Herzschlag lang, dann lief sie wieder zurück, fand

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