Loreley
bestanden, ihre Familie mit dem Besuch zu überraschen, und Baan, der ihr jeden Wunsch von den Lippen ablas, hatte sich b e reitwillig darauf eingelassen. Hätten sie sich der Burg tagsüber genähert, hätte man sie schon von weitem en t deckt. So aber war die Überraschung gelungen. Ein w e nig zu gelungen vielleicht.
Baan war bereits im Haupthaus verschwunden und e i gentlich hätte Fee ihm folgen müssen. Stattdessen aber bahnte sie sich durch die Menge der Menschen und Pfe r de einen Weg zum Weiberhaus, sprang eilig die Stufen hinauf und klopfte an die Tür von Ailis’ Kammer.
Drinnen rührte sich nichts. Fee drückte die schwere Klinke nach unten und trat ein. Die Kammer war verla s sen. Decke und Kissen auf dem Bett waren zerwühlt, und als Fee ihre Hand darauf legte, spürte sie, dass die g e steppte Auflage noch warm war. Ailis war eben erst au f gestanden.
Noch immer konnte sie nicht glauben, dass ihre Freundin nach so langer Zeit einfach an ihr vorüberg e stürmt war. Hastig lief Fee zurück auf den Hof und betrat Erlands Werkstatt. Der Schmied zog sich gerade ein Wams über den massigen, behaarten Obe r körper.
»Fräulein Fee!«, entfuhr es ihm erstaunt.
»Hast du Ailis gesehen?«, fragte sie barsch, was ihr gleich darauf Leid tat. Aber seit sie den Haushalt eines Ritters führte, hatte sie sich notgedrungen einen schärf e ren Ton im Umgang mit Bediensteten angewöhnt. »Ve r zeih«, setzte sie versöhnlicher hinzu, »ich wollte nicht – «
Erland unterbrach sie mit einer wegwerfenden Han d bewegung. »Sie war noch nicht hier. Aber wenn du es so wenig erwarten kannst, sie wiederzusehen, warum weckst du sie dann nicht auf?«
»Hab ich schon versucht, aber sie ist nicht in ihrer Kammer.«
Erland zuckte mit den Schultern. »Vielleicht musste sie mal raus.«
»Ja, vielleicht«, entgegnete Fee nachdenklich. Ke i neswegs überzeugt wandte sie sich zur Tür. »Danke, E r land.«
Draußen sah sie sich noch einmal aufmerksam um. Keine Spur von Ailis. Wenn sie noch lange hier heru m stand, würde eine ihrer früheren Zofen sie entdecken. Oder, schlimmer noch, ihr Vater. Falls sie also Ailis wirklich suchen wollte, musste sie es gleich tun.
Fee hielt einen Stallburschen auf, der zwei Pferde zur Tränke führte, und ließ sich eines der Tiere aushändigen. Ehe irgendwer sie zurückhalten konnte, schwang sie sich in den Sattel und preschte an der Kutsche und den e r staunten Wachen vorbei durchs Burgtor. Der Saum ihres Wollkleides war bis zu den Hüften hochgerutscht und die Kälte biss empfindlich in ihre bloßen Schenkel. Trot z dem trieb sie das Pferd eilig bergab.
Grauer Dämmer lag über der Landschaft. Im anbr e chenden Tageslicht war Ailis nirgends zu entdecken. E i nen Moment lang war Fee versucht, die Abzweigung zum Waldrand zu nehmen und dort nach ihr zu suchen, doch ein dumpfes Gefühl sagte ihr, dass dies die falsche Richtung war. Sie hatte Ailis bisher nur ein einziges Mal so so n derbar erlebt. Dam als hatte Fee sie am anderen Ufer entdeckt, völlig verwirrt, mit einem zerfetzten V o gel in Händen.
Fee erreichte das Dorf, preschte zwischen den Häusern und Hütten hindurch. Die ersten Bewohner waren schon auf den Beinen, doch Ailis war nicht unter ihnen.
Am Fluss fiel ihr erster Blick auf die Anlegestelle. Die Fähre war fort. Es war noch zu düster, um das gegenübe r liegende Ufer deutlich erkennen zu können, doch falls ihre Augen sie nicht trogen, hatte die Fähre gerade dort drüben losgemacht und war auf dem Weg zurück zum Dorf.
Fee stieg vom Pferd. Ein kalter Wind strich über den Rhein, drang durch ihre Kle i dung und überzog ihren Körper mit einer Gänsehaut. Das hier war nicht das Wil l ko m men, das sie sich ausgemalt hatte. Und doch – so einfach würde sie Ailis nicht aufg e ben. Was war nur in den vergangenen drei Monden hier geschehen?
Fee fühlte sich schuldig, ohne den wahren Grund dafür zu kennen. Vielleicht, weil sie ihre beste Freundin sich selbst überlassen hatte. Aber Ailis war genauso alt wie sie und noch dazu weit robuster in ihrer Art, mit den M ü hen des Lebens fertig zu werden.
Mochte Fee sich insgeheim auch noch so viele Vo r würfe machen – sie hatte Ailis nicht im Stich gelassen! Sie hatte nur versucht, ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen. Und wer konnte ihr das verübeln?
Die toten Tiere waren verschwunden. Nicht einmal Sp u ren waren zurückgeblieben. Es war, als wären mit dem Schnee auch die Kadaver geschmolzen. Das Gitter war
Weitere Kostenlose Bücher