Loreley
zielsicher die Kiste mit den Schmuckst ü cken und nahm willkürlich eine kunstvolle Brosche he r aus. Schließlich verließ sie die Schmiede, ohne entdeckt zu werden.
Draußen erwartete sie eine Überraschung.
Vorhin, als sie vom Weiberhaus zur Werkstatt gela u fen war, war der Hof noch menschenleer gewesen. Doch das hatte sich schlagartig geändert. Ein Trupp von Re i tern war am Tor eingetroffen.
Seltsam, dachte Ailis benommen, dass sie die Pferde nicht gehört hatte, als sie den Weg heraufgekommen w a ren.
Einer der Wächter vom Burgtor kam aufgeregt auf sie zugelaufen. Einen Auge n blick lang fürchtete sie, ihr Diebstahl sei entdeckt worden, und obgleich die Gesänge des Mädchens sie vor aller Unbill behüteten, sie einlul l ten und ihre Gedanken frei von Zweifeln hielten, durc h lief sie ein eiskaltes Schaudern.
Der Wächter aber warf ihr nur einen kurzen Blick zu und stürmte weiter zum Portal des Haupthauses.
Ailis riss sich zusammen und trieb auf den Wogen des Gesangs zum Tor, auf die drei verbliebenen Wächter zu, die jetzt zur Seite traten, um die Reiter einzulassen. Schnaubend trabten die Rösser in den Hof, das Klappern ihrer Hufe brach sich an den Mauern. Hinter einigen Fenstern wurden Kerzen entzündet, aus anderen blickten ve r schlafene Gesichter.
Ailis hatte Mühe, ihre Gedanken beisammen zu halten. Ihr war schwindelig, und einen Moment lang spürte sie ganz deutlich, dass sie nicht mehr sie selbst war. Das Tor war durch die Reiter versperrt, und es fiel ihr ungemein schwer, mit der neuen Lage umzugehen. Bisher hatte alles so einfach ausgesehen: den Schlüssel holen, zum Ufer laufen, den Fährmann mit der Brosche bezahlen, und dann hinauf zum Lurlinberg.
Unerwartete Schwierigkeiten verstießen gegen den Plan, warfen sie aus der Spur, die der Gesang ihr vorg e zeichnet hatte. Sie zauderte, versuchte zu überlegen, eine eigenständige Entscheidung zu treffen. Das war schwer, so unsagbar schwer.
Im selben Moment verließ der vordere Reiter den Schatten der Burgmauer und ließ sein Pferd in den Lich t kreis einiger Fackeln an der Wand des Haupthauses tr a ben. Ailis erkannte ihn. Einen Moment lang war sie wie gelähmt.
Baan von Falkenhagen schwang sich aus dem Sattel, fasste sein Ross beim Zügel und blickte sich um zum Burgtor. Einen Atemzug später wusste Ailis, nach was er Ausschau hielt: Eine Kutsche schaukelte in den Hof. Die vom Ritt durch die Nacht erschöpften Reiter lenkten ihre Pferde beiseite, um Platz für das Gefährt zu schaffen.
Ailis wartete nicht ab, um sich zu vergewissern, wer aus der Kutsche steigen würde. Der Gesang sagte ihr, dass dazu keine Zeit blieb. Vergiss es, säuselten die Klänge vom Lurlinberg, denk nicht daran, wer es sein könnte. Es ist dir gleichgültig. Sie hat dich im Stich g e lassen. Schon vergessen?
Sie drängte sich zwischen den Pferden hindurch, sah noch, wie der Vorhang eines Kutschenfensters beiseite geschlagen wurde und ein Gesicht herausschaute. Ein Gesicht unter langem, hellblondem Haar.
Dann war Ailis vorüber und passierte geschwind die Wachen am Tor, die in all dem Trubel viel zu beschäftigt waren, um ihr Beachtung zu schenken.
Ailis rannte den Berg hinab. Irgendwo, weit, weit in ihrem Hinterkopf, war die eherne Gewissheit, dass ihre Freundin sie bemerkt hatte. Fee würde sich wundern. Würde ihr vielleicht sogar folgen.
Aber das durfte sie nicht! Der Gesang galt nur ihr, nur Ailis. Keinem anderen.
Über den Bergen dämmerte der Tag heran, hellblaue Schlieren am Rande der Nacht. Der Fährmann kehrte Pferdedung von seiner Fähre ins Wasser.
Schnell, spornte die Stimme des Mädchens Ailis an. Nimm die Brosche. Gib sie ihm.
Bald darauf glitt die Fähre erneut über das Wasser. Der Gesang wurde lauter, kraf t voller, doch nur Ailis konnte ihn hören. Wie eine Schlafwandlerin stand sie an der Reling und starrte zum Himmel empor, zum Lurli n berg, der schwarz und steil vor ihr aufragte. Ihr Herz schlug so schnell, dass es weh tat, wie ein Stachel aus Stein, der sich langsam in ihren Brustkorb bohrte.
Fee sprang aus der Kutsche und schaute sich aufgeregt um. Es war Ailis gewesen, ganz bestimmt. Aber sie wäre doch nicht einfach fortgelaufen, ohne sie zu begrüßen! Nein, unmöglich.
Mittlerweile strömten Bedienstete und Stallburschen aus den Häusern auf den Hof, um die Pferde der A n kömmlinge zu versorgen. Der Trupp war fast die ganze Nacht hindurch geritten und die Tiere waren so ausg e laugt wie ihre Reiter. Fee hatte darauf
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