Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Loreley

Titel: Loreley Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
Vom Netzwerk:
jetzt wieder in all seiner Hässlichkeit zu sehen. Mit se i nen zahllosen Stacheln wirkte es wie eine bizarre Krone aus schwarzem Stahl, d ie sich der Lurlinberg in dämon i scher Übe r heblichkeit selbst aufgesetzt hatte.
    Der Gesang des Mädchens machte es leichter, den Anblick zu ertragen. Was Ailis an Widerstand in sich spürte, war machtlos gegen den Sog dieser Klänge, gegen den Zwang zu gehorchen – und es gerne zu tun.
    Die letzten Schritte bis zum Rand des Schachtes waren die leichtesten. Sie war so von den magischen Tönen durchdrungen, dass es keine Frage mehr war von Wollen oder Nichtwollen. Sie durfte näher kommen, durfte sich vorbeugen, um das Wesen dort unten zu sehen, dieses furchtbare Ding im Körper eines Kindes.
    Das Mädchen saß auf dem Vorsprung über dem A b grund und schaukelte mit seinen nackten Füßen. Sie w a ren so schmutzig wie die eines Kindes, das vom Spielen nach Hause kommt, nur dass dies kein gewöhnlicher Schmutz war – ebenso wenig wie der Rest der braunen Kruste, die den Körper der Kleinen als hautenger Kokon umgab. Das Blut der Tiere war getrocknet und von einem Netz heller Risse durchzogen, wo die harte Oberfläche aufgesprungen war. Das zerfetzte Kleid des Mädchens war ebenso davon durchtränkt wie sein einstmals blondes Haar. Sein Gesicht sah aus wie eine dunkle Maske, aus der nur die Augen hell hervorstrahlten.
    Die Lippen der Kleinen waren leicht geöffnet, einen e n gen, schwarzen Spalt breit, und dahinter sang die Kre a tur ihr betörendes Zauberlied. Jetzt lächelte die Kleine sogar, strahlte geradezu vor Glück darüber, Ailis wiede r zusehen.
    Dann aber, von einem Augenblick zum nächsten, brach der Gesang unvermittelt ab.
    Für Ailis war die Stille ohne Bedeutung. Sie war zu schwach, um sich aus dem Bann der Kreatur zu befreien. Noch immer hallte die Melodie in ihr nach, zart und ve r loc kend, und sie hörte sie selbst dann noch im Hinte r grund, als das Echo zu ihr sprach:
    »Ich fürchte, ich habe unser kleines Spiel verloren, A i lis. Ich hatte gehofft, du wü r dest Vernunft annehmen. Und ich bin selbst jetzt noch sicher, dass es irgendwann so gekommen wäre. Aber« – das Echo legte kindliches Bedauern in seine Züge – »wicht i ge Ereignisse kündigen sich an. Ich habe schon zu lange darauf gewartet, dass du mir entgegenkommst. Auch meine Geduld ist nicht gre n zenlos. Hundert eurer Jahre sind für mich wie ein Tag, aber manchmal wollen Entscheidungen schnell getroffen werden. Ich hoffe, du bist nicht wütend. O nein, das bist du nicht, ich seh’s dir an.«
    Ailis blinzelte wie betäubt durch das Gewirr der Stah l spitzen in die Tiefe. »Wo … wo sind all die Tiere?«
    »Wölfe haben sie geholt«, sagte das Echo gelangweilt.
    »Aber Wölfe fressen kein Aas.«
    Eine Zornesfalte teilte die Stirn des Mädchens und ließ Blutschuppen in den A b grund rieseln. »Musst du denn immer alles besser wissen? Natürlich fressen Wölfe kein Aas! Ich habe ihnen befohlen, es dennoch zu tun. Und, du siehst, es ist nichts übrig geblieben.«
    »Das muss ein ganzes Rudel gewesen sein.«
    Das Mädchen hob gelangweilt die Schultern. »Hu n dert, zweihundert Wölfe. Sie waren gerade in der Nähe.« Mit einem Lächeln fügte es hinzu: »Aber sie sind fort. Du brauchst keine Angst zu haben.«
    Es fiel Ailis unsagbar schwer, die richtigen Worte zu finden. »Alle sagen ständig, ich soll keine Angst haben.«
    »Vielleicht, weil sie dich besser kennen als du dich selbst.«
    Der Gesang verhallte, doch Ailis schien es, als bliebe dennoch ein Teil davon z u rück. Ein leichtes, fernes Echo, eher z u fühlen als zu hören, trotz ihrer guten Ohren. Als hätte etwas die Tür zu ihren Gedanken einen Spaltbreit aufgeschoben und wartete nun darauf, dass sich der Ei n gang zu voller Weite öffnete.
    Sogar durch den Schleier, der über ihrem Bewusstsein lag, begann sie allmählich zu begreifen, was das Echo wirklich vorhatte.
    »Ich will in dir sein«, sagte das Wesen. »Lass uns te i len, was dir gehört, und gena u so sollst du Anteil an mir haben. Denk doch, wie es sein könnte! Du und ich, ve r eint in einem Körper!«
    Ailis wollte etwas sagen, den Kopf schütteln, sich wehren. Aber das alles war zwecklos.
    »Du verstehst nicht«, fuhr die Kreatur fort. »Es wird ganz anders sein als du glaubst. Du wirst mich nicht ei n mal bemerken. Ich werde die Entscheidungen für dich treffen, und du wirst glauben, es seien deine eigenen. Für dich wird es sein, als wärest du weiter du selbst.

Weitere Kostenlose Bücher