Loreley
winzigem Glockenturm, längst nicht so alt wie der Rest des Gebäudes; Baans Großvater hatte sie errichten lassen, nachdem er seine beiden Brüder im Heiligen Land verl o ren hatte.
Die Männer und Frauen, die auf dem Gut des Ritters arbeiteten, lebten in einem Dutzend kleiner Hütten, u n weit des Bergfrieds in einer windgeschützten Bodense n ke gelegen. Schafe bevölkerten die Wiesen rund um den Turm, dazwischen grasten einige Milchkühe. Der Wind, der über die Hochebene fegte, war eiskalt, und die Me n schen, die hier lebten, starben meist jung an den Folgen häufiger Erkältungen. Sogar Baans Vater, Heilmar von Falkenhagen, ein verdienter Kämpfer in zahllosen Schlachten, war hier vor einigen Jahren einem Fieber erlegen. Zwischen Hustenanfällen hatte er seinem Sohn aufgetragen, das Gut weiterzufü h ren und sich nicht von der rauen Landschaft vertreiben zu lassen. Dabei hatte Baan doch auch vorher nie mit dem Gedanken gespielt, von hier fortzugehen – dies war das Land seiner Väter, und es würde auch das seiner Söhne sein.
Die Kutsche schaukelte leer am Ende des Reiterzuges. Fee hatte zum Erstaunen a l ler darauf bestanden, die Rückreise im Sattel eines Pferdes anzutreten. Sie ritt gleich neben Baan und saß auf ihrer Stute wie ein Mann, mit gespreizten Beinen, nicht sei t wärts, wie es Sitte der Frauen war. Fee hatte den Saum ihres langen Kleides bis hinauf über die Schenkel geschoben. Ihre nackte Haut war mit einer Gänsehaut überzogen und doch spürte sie keine Kälte. Auch die verstohlenen Blicke, die ihr die Männer regelmäßig zuwarfen, waren ihr nicht unang e nehm; im Gegenteil, zum ersten Mal in ihrem Leben g e noss sie die Begierde, mit der andere sie beobachteten.
Baan war alles andere als glücklich über ihr Bene h men. Doch Fee fand plötzlich Gefallen daran, ihn herau s zufordern, in die Schranken zu weisen und vor all seinen Männern zu demütigen. Seit ihrer Rückkehr vom Lurli n berg spürte sie in sich den Drang, ihn zu verletzen. Di e ser Wunsch war jetzt ebenso ein Teil von ihr wie das And e re, das sie in sich spürte.
Den ersten Vorgeschmack ihrer Überlegenheit hatte Fee Baan noch im Burghof i h rer Familie gegeben, wo sie ihn – kaum vom Lurlinberg zurückgekehrt – aufgefordert hatte, umgehend die Rückreise anzutreten.
Baan hatte gelächelt, auf seine jungenhafte, gewi n nende Art. »Das ist nicht dein Ernst, oder?«
»Wir können hier stehen und uns streiten«, hatte sie kühl e ntgegnet, »oder du gibst gleich den Befehl zur A b reise. Am Ende tun wir ja doch das, was ich sage.«
Sie schlug mit diesen Worten in eine Wunde, derer er selbst sich kaum bewusst war. Schon seit ihrer Hochzeit kursierte unter seinen Leuten die Rede, dass der Ritter seiner jungen Frau mit Haut und Haar verfallen war. Er bezog sie in wichtige Entsche i dungen ein und befolgte jeden ihrer Wünsche. Manche spotteten verstohlen, er sei wohl plötzlich zum Schwächling geworden. Die meisten aber akzeptierten, dass mit ihm dasselbe geschah, was viele von ihnen irgendwann einmal durchgemacht hatten, auf die eine oder andere Weise: Baan war hoffnungslos verliebt.
Der Vorfall im Burghof war das erste Mal, dass Fee diese Tatsache offen ausspielte. Baans Männer mochten bisher nur geahnt haben, welche Macht sie über ihn b e saß – jetzt aber wussten sie es genau. Denn Baan beging den größten nur möglichen Fehler: Statt sein aufsässiges Weib in aller Öffentlichkeit zu maßregeln, gab er ihr o h ne Zögern nach.
Niemandem war die kurze Folge von Tönen aufgefa l len, die Fee zwischen ihren Lippen hervorgepresst hatte. Und wenn doch, hätte kaum einer sich Gedanken darüber gemacht. Denn die Wirkung des Gesangs traf nur Baan, traf ihn hart und überraschend wie ein Armbrustbolzen im Dunkeln.
Die Wesenheit, mit der Fee sich ihren Körper teilte, war ungeduldig. Sie hatte das Gefallen an Spiel und g e mächlichem Necken verloren. Sie kannte ihre Macht über die Menschen und würde sie von nun an unbarmherzig nutzen. Die Tage des Wartens, des langsamen Heranta s tens waren endgültig vorüber.
Fee bemerkte, dass eine Veränderung mit ihr vorging, eine Verschiebung ihrer A n sichten und Gefühle. Sie hatte keine Erklärung dafür, wusste nur, dass dieser Vorgang oben auf dem Lurlinberg begonnen hatte. Sie besaß keine E r innerung an Ailis’ Rolle in all dem, ebenso wenig an das Gitter und das kleine Mädchen im Schacht. Aber e t was sagte ihr, dass alles, was geschah und noch gesch e hen
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