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Loreley

Titel: Loreley Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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der Frau lag der grünliche Schimmer von frischem Gras. Nicht ihr Fleisch war grün; vielmehr kam diese Färbung von außen, wie der Schein einer Lichtquelle, selbst dann, wenn kein Licht in der Nähe war. Ihr dunkelbraunes Haar floss am Rücken hi n ab bis zu ihren Hüften, voll und gelockt, als befänden sich darunter eine Vielzahl winziger Vogelnester. Manchmal umflatterten sie Irrlichter, jedes nicht größer als ein Leuchtkäfer, und die Gräfin hatte die kleinen W e sen manches Mal im Haar der Feenkönigin verschwinden sehen; vielleicht hatten sie dort wirklich ihre Nester.
    Titanias Gesicht war ungemein schmal und ebenm ä ßig. Ihre großen, rehbraunen Augen standen leicht schräg, ihre Wimpern waren so lang wie Libellenflügel. Locken kräuselten sich spiralförmig neben ihren Wa n gen, und sie sah jung aus, nicht älter als Fee. Eine Tä u schung, natürlich; in Wahrheit war Titania so alt wie das geheimnisvolle Land, das sie regierte.
    Sie trug ein kirschrotes Kleid, das bis zum Boden reichte. Der Saum aber schwebte eine Fingerbreite über den Dielen, als würde er von einer Heerschar unsichtb a rer Win z linge auf den Schultern getragen. Die Ärmel waren lang und eng, fielen nur um die Hände fächerfö r mig auseinander. Der Stoff war nicht verziert, ganz ohne Stickereien und Näharbeiten, und doch schien es manchmal, als lege sich je nach Laune seiner Trägerin ein feines Muster darüber. Ob Titania Schuhe trug, ve r mochte die Gräfin nicht zu sagen; noch nie hatte sie Füße unter dem Saum des Kleides hervorschauen sehen. Die Schritte der Königin waren völlig lautlos, so als würde auch sie selbst von einer rätselhaften Macht über dem Boden gehalten.
    »Das Echo ist frei«, sagte die Herrscherin der Feen. »Es hat seinen Kerker verlassen, viel früher, als wir g e hofft haben.« Mit ›wir‹ meinte sie nur sich selbst, nicht etwa die Gräfin.
    »Das Tor ist jetzt ohne Wächter«, fuhr sie fort. »Jeder, der sich darauf versteht, kann es öffnen.«
    »Der alte Glaube an Faerie ist geschwunden«, wandte die Gräfin ein. »Niemand kennt mehr seine Gesetzmäßi g keiten und Rätsel. Es gibt keinen, der das Tor in Euer Reich aufstoßen könnte. Nicht einmal ich selbst vermag das.«
    »Nicht einmal du?«, wiederholte Titania mit mildem Lächeln. »Glaub mir, es gibt Mächtigere als dich. Und ich spüre, dass jene bereits wissen, was geschehen ist.«
    »Die Naddred?«
    Die Königin nickte und machte gedankenverloren eine fahrige Bewegung mit ihrer schmalen, grün schimmer n den Hand. Die Finger stießen durch die massive Hol z lehne des Sessels, als wäre sie aus Nebel.
    Titania war nicht wirklich hier, sie hatte nur ein A b bild ihrer selbst gesandt, dem sie ganz nach Belieben Substanz verlieh, mal mehr, mal weniger, dann wieder überhaupt keine.
    »Die Druiden wissen viel über uns«, sagte sie. »So lange sie in deiner Welt bleiben, kann ich nichts gegen sie ausrichten. Sie werden nicht den Fehler begehen, nach Faerie zu kommen. Aber sie werden dafür sorgen, dass Bewohner von Faerie hierher übe r wechseln. Und dafür werden die Naddred einen Preis verlangen.«
    »Völligen Gehorsam.«
    Titania nickte abermals. »Eine Weile lang werden meine Untertanen bereit sein, diesen Preis zu zahlen. Die Naddred werden sehr mächtig werden. Bis schließlich der Tag kommt, an dem die Wesen von Faerie der Skl a verei überdrüssig werden. Sie sind nicht zum Dienen g e schaffen. Sie lieben Scherze und Schabernack. Und sie werden das Antlitz eurer Welt nach ihrem Gutdünken gestalten.«
    »Und Ihr könnt das Tor nicht schließen?«
    »Nur ein Echo vermag das. Echos sind alte Wesen, und es gibt nicht mehr so viele von ihnen wie einst. Jedes bewacht eines der verborgenen Tore nach Faerie, dazu wu r den sie geschaffen. Ich kann kein anderes Echo hierherbefehlen. Sie alle haben ihre Aufgaben, seit vi e len, vielen Zeitaltern.« Titania trat an eines der Regale und betracht e te mit kindlicher Neugier die Schriftzeichen auf den Gefäßen. Dabei sprach sie weiter: »Das Echo vom Lurlinberg ist auf der Flucht. Es ist nicht das erste seiner Art, das über seine Einsamkeit den Verstand verl o ren hat, aber keines vor ihm hat je so viel Eigenleben entwickelt. Die anderen sind träge, müde Kreaturen, aber dieses hier … Es ist vielleicht noch viel gefährlicher, als wir bisher geglaubt haben.«
    Die Gräfin versuchte vergeblich, den vorwurfsvollen Klang ihrer Stimme zu unte r drücken. »Damals habt Ihr versprochen, das

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