Loreley
leises Rascheln ertönte, das allmählich zu einem Bersten wurde, so als bräche etwas mit Gewalt durch das Unterholz eines Waldes und käme näher, immer näher. Ailis erkannte, dass die Laute aus dem mumifizierten Körper des Mädchens drangen, und sie begriff, dass es der Tod war, der all die Zeit über im Inneren dieses Le i bes zurückgehalten worden war. Jetzt eilte er heran und forderte sein Recht.
In einer Wolke aus Staub barst das Mädchen ausei n ander. Ein Orkan aus Haut und Knochensplittern und geronnenem Blut fauchte aus dem Schacht empor, ve r teilte sich über dem Plateau, hing einen Moment lang wie ein mannsgroßer Pilz in der Luft, sank dann in sich z u sammen und war spurlos verschwunden.
Ailis schaute kraftlos zu Fee auf, die am Rande der Steilwand stand, den Rücken zum Rhein gekehrt. Stumm erwiderte sie Ailis’ Blick. Ein Lächeln lag auf ihren Z ü gen, aber es ähnelte keinem, das Ailis je zuvor an ihr g e sehen hätte. Nichts sonst verriet die Veränderung, die mit ihr vorgegangen war, keine glühenden Augen, kein Atem, der nach Verwesung roch. Nur dieses Lächeln. Dieses furchtbare, betörende Lächeln, viel zu schön, um menschlich zu sein, Zeichen einer Grausamkeit, die älter war als der Berg und der Fluss und das ganze Land.
Fee breitete die Arme aus, als wollte sie die Welt u m fassen. Sie legte den Kopf in den Nacken, schloss ihre Augen. Ein Windstoß raste vom Rhein herauf, fuhr in ihr Haar und wirbelte es als goldenen Stern auseinander, e i ne zweite Sonne, die vor dem Dä m merhimmel aufging und Fees Gesicht wie eine Aureole umspielte. Nie zuvor war sie herrlicher gewesen und niemals entsetzlicher.
Ailis spürte, wie der Gesang sie als Welle aus Leid und Bedauern überkam, wie er sie blendete vor Pein und mit Traurigkeit betäubte. Sie fühlte, wie die Klänge sie packten und w ie die Melodie aus den Tiefen ihrer Ve r bannung emporstieg, sie schüttelte und würgte und gleich einer Lumpenpuppe beiseite warf. Sie sah das Loch im Berg auf sich zurasen, ein gezahnter Kreis aus Dunke l heit, und obgleich sie nicht hineinfiel, sondern am Fel s rand daneben aufschlug, sprang die Finsternis sie an und saugte sie hinab in einen Abgrund, der nur in ihrem Kopf existierte.
»Sie ist wieder abgereist«, sagte die Gräfin, als sie ihre Gemächer im Obergeschoss des Weiberhauses betrat. »Fee ist fort.«
Sie spürte, dass sich noch jemand in diesen Räumen aufhielt, obwohl keiner die B e fugnis dazu hatte. Nicht einmal ihr Mann, Graf Wilhelm, kam hierher. Er respe k tierte ihren Wunsch, in diesen Wänden ungestört zu ble i ben. Möglicherweise fürchtete er sich vor dem, was er hier finden mochte.
Die Gräfin wusste natürlich, was über sie geredet wu r de. Das meiste entsprach der Wahrheit, obgleich sie selbst die Dinge anders bewertete, nicht das Teuflische darin sah, sondern vielmehr die Möglichkeiten des G u ten, die sich ihr dadurch boten.
Eine Hexe, flüsterten die Alten hinter vorgehaltener Hand. Eine Schülerin Satans. Wenn sie alle doch nur b e greifen könnten, was sich wirklich hinter solchen Wö r tern verbarg!
Die Gräfin war keine Hexe im eigentlichen Sinne. Und Satan war für sie nichts als eine weitere Lüge des Chri s tentums. Er war eine Erfindung der Kirche, ein Zerrbild des Gehörnten Gottes, dem Oberhaupt des Alten Gla u bens, im Ursprung weder verderbt noch darum bemüht, andere zum Bösen zu verführen. Er existierte überall, in den Wä l dern und Bergen, den Feldern und Weiden und Flüssen und Seen. Er war der Eine und das Alles, er b e wohnte jeden Menschen, jede Pflanze, jedes Tier.
Doch nicht der Gehörnte Gott war es, dem die Gräfin sich verpflichtet fühlte.
»Es ist schlimmer, als ich befürchtet habe«, sagte eine sanfte weibliche Stimme.
Die Frau, der sie gehörte, saß in einem hölzernen Armsessel, dessen hohe Lehne zur Tür wies. Die Gräfin konnte die Sprecherin von ihrem Standort aus nicht s e hen, doch sie bemerkte das schwache grüne Leuchten, das sich auf den glasierten Oberfl ä chen der Schalen und Tiegel brach, die überall auf Tischen und Regalen sta n den, zw i schen uralten Folianten, manche aufgeschlagen, andere hoch übereinander gestapelt.
»Wie könnte es noch schlimmer sein?«, fragte die Gräfin müde.
Die Frau im Sessel erhob sich und drehte sich mit mädchenhaftem Schwung zur Tür. Ihr Anblick verschlug der Gräfin selbst heute noch den Atem, obgleich sie ihr schon so oft gegenübergestanden hatte.
Über der hellen Haut
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