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Loreley

Titel: Loreley Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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mochte, allein zu ihrem Besten war – dasselbe E t was, das ihr Gewissen mit einem einzigen Schlag bese i tigt und ihr Wesen nach seinem Willen umgeformt hatte.
    Fee war nach wie vor sie selbst und doch eine andere, und während der viertägigen Rückreise lernte sie schnell, diesen Zwiespalt in ihrem Inneren zu überbrücken. Be s ser noch: Bald verstand sie es, die unterschiedlichen T a lente ihrer beiden Hälften beliebig auszuspielen, ganz nach Bedarf die alte oder die neue Fee herauszukehren oder aber eine nützliche Mischung aus beiden.
    Sie dachte und handelte auf eine Weise, die sie früher als schlecht, als abscheulich empfunden hätte. Jetzt aber kannte sie solche Skrupel nicht mehr. In ihrem Herzen wurde sie wie ein Raubtier, das jede seiner Handlungen auf reinen Nutzen ausrichtet – der Wolf mag seine Ju n gen behüten und ihr Fell lecken, aber er tut es, weil er damit das Rudel stärkt, nicht etwa aus Liebe, und wenn er ein anderes Lebewesen zerfleischt, so empfindet er dabei keinen Hass, sondern nur Hunger, der gestillt we r den will.
    Genauso empfand auch Fee. Die Wünsche des And e ren in ihr wurden für sie zum selbstverständlichen B e dürfnis. Sie trank, wenn sie Durst hatte, und sie demüti g te Baan, wenn das Andere darin einen Vorteil sah. An keines von beidem verschwendete sie mehr als einen flüchtigen Gedanken. Essen, trinken, dem Anderen g e horchen – all das hatte für sie denselben Stellenwert. Das eine war so unentbehrlich zum Überleben wie das and e re, und da sie keine Gewissensbisse m ehr verspürte, ging es ihr gut dabei, und sie erblühte trotz der anstrengenden Reise zu etwas Neuem und gänzlich Vollkomm e nem.
     
    Ein leichter Nebel lag über der Hochebene, als sie vom Kraterrand hinab zum Stam m sitz derer von Falkenhagen ritten. Der Bergfried erwartete sie hoch und grau im Dunst, verschwommen wie eine Erscheinung, geisterhaft in seiner archaischen Majestät.
    Die Schafe auf den umliegenden Wiesen blickten i h nen starr hinterher, bewegung s lose weiße Flecken, so als hätte sich der Nebel an einigen Stellen zusammengez o gen und Gebilde von wolliger Dichte erschaffen. Von irgendwo erklang Hundegebell, und ganz in der Nähe stieß eine Kuh lang gezogene, weinerliche Laute aus.
    Niemand hatte mit einer so schnellen Heimkehr des Herrn und der Herrin gerechnet und so liefen am Fuß des Turmes zahlreiche Gestalten aufgeregt durcheinander. Aus den Ställen wehte den Reitern der Geruch von Tie r dung entgegen, doch Fee war sicher, dass niemand außer ihr selbst ihn wahrnahm; die anderen hatten ihr ganzes Leben hier verbracht, und selbst Baan, der jahrelang in der Fremde als Knappe gedient hatte, störte sich nicht am groben Gestank des Mists.
    Der Platz vor der Treppe, die hinauf zum Eingang des Bergfrieds führte, war schlammig und von den Furchen der Karren durchzogen, mit denen die Bediensteten mehrmals am Tag Wasser vom Kratersee herbeischaf f ten. Man hatte den Boden zu Beginn des Frühjahrs wei t räumig mit Stroh bedeckt, doch zahllose Füße hatten die gelben Halme achtlos in den Schmutz getrampelt. Längst hatten sich Morast und Stroh zu einer weichen, hässl i chen Schicht vermischt.
    Guntram, Baans Verwalter, ein kleiner, kräftiger Mann, dem schon in der Jugend das Haupthaar ausg e gangen war, trat ihnen mit freundlicher, aber auch ne u gieriger Miene entgegen.
    »Herr, seid gegrüßt! Und Ihr, meine Dame! Wir haben Euch nicht so früh zurüc k erwartet.« Fee bemerkte sehr wohl, dass sein Blick eine Spur zu lange auf ihren nac k ten Schenkeln verharrte, und sie schenkte ihm ein L ä cheln voll falscher Scham.
    »Tatsächlich«, setzte der Verwalter errötend hinzu, »nahmen wir an, Euch nicht vor Ablauf eines Mondes wiederzusehen.«
    »Wir mussten unsere Entscheidung überdenken«, en t gegnete Baan vage, als könne er sich plötzlich selbst nicht mehr ganz an den Sinn dieser Entscheidung eri n nern. Er warf Fee einen kurzen Blick zu, aus dem sie deutlich seine Verwirrung ablas. Auch sie war übe r rascht: Konnte es sein, dass er tatsächlich erst jetzt, nach vier vollen Tagen, begann, das Geschehene zu begreifen? Doch mit dieser Frage zapfte sie zugleich das Wissen des Anderen an, und sogleich wurde sie beruhigt: Alles g e schah, wie es gesch e hen musste.
    »Ich hoffe«, sagte Guntram, »Ihr hattet keine Una n nehmlichkeiten.«
    Baan zögerte einen Moment. »Nein«, antwortete er dann. »Alles verlief bestens.« Ein wenig überhastet stieg er vom Pferd und gab den

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