Loretta Chase
ruinieren. Und für jedwede
andere Tätigkeit war sie wenig qualifiziert – zumindest für jedwede andere
respektable Tätigkeit.
Wenn sie
nicht respektabel war, würde ihre Tochter es auch nicht sein. Wenn Olivia nicht
respektabel war, würde sie keine gute Partie machen.
Denk später
daran, ermahnte sich Bathsheba. Später, wenn ihre Tochter im Bett lag, würde
sie sich in aller Ruhe über ihre Zukunft den Kopf zerbrechen können. Dann käme
sie zumindest nicht auf dumme Gedanken.
An ihn
beispielsweise.
Von allen
Männern der Welt musste er ausgerechnet der Erbe des Earl of Hargate sein.
Nicht nur
ein gelangweilter, blasierter Adeliger, sondern auch noch ein berühmter. Lord
Perfect wurde er genannt, weil Rathbourne sich noch nie einen Fehltritt
geleistet hatte.
Hätte er
sich nicht zu erkennen gegeben, würde sie wohl noch ein wenig verweilt haben.
Nur schwer war den dunklen Augen – denen vor allem – zu widerstehen, wenngleich
sie nicht genau hätte sagen können, weshalb.
Sie wusste
nur, dass diese Augen sie beinah in ihrem Entschluss hätten schwach werden
lassen. Fast wäre sie umgekehrt.
Aber wozu?
Ihn zu
kennen, konnte zu nichts Gutem führen. Zumindest nicht für sie.
Er war ganz
anders als ihr verstorbener Mann. Jack Wingate war der jüngere Sohn eines Earls
gewesen, frei von Pflichtgefühl und jeglicher Zuneigung gegenüber seiner
Familie. Letzteres hatte er mit Bathsheba gemein, wenngleich die Gründe andere
waren.
Lord
Rathbourne war von gänzlich anderem Schlag. Obwohl auch er einer der besten und
bedeutendsten Familien Englands angehörte, war die seine dafür bekannt, fest
zusammenzuhalten. Zudem ließ alles, was sie über ihn gehört und gelesen hatte,
nur einen einzigen Schluss zu: Er war die Verkörperung eines Ideals, er war
alles, was Aristokraten sein sollten, doch nur selten waren. Seine Werte waren
vorbildlich, sein Pflichtgefühl vortrefflich, seine Vorzüge zu zahlreich, um
sie allesamt
aufzuzählen. In den Skandalblättern wurde er nie erwähnt. Wenn sein Name in
gedruckter Form auftauchte – was indes regelmäßig der Fall war –, dann, weil er
etwas sehr Ehrenwertes oder Kluges oder Mutiges gesagt oder getan hatte. Er war
perfekt.
Und dieses
Musterbeispiel adeliger Tugend hatte sich keineswegs als der Langweiler
entpuppt, den sie sich vorgestellt hatte.
Einem
solchen Mann – und dies galt für nahezu alle verantwortungsvollen
Männer von Stand – konnte sie nie mehr als eine Mätresse sein. Kurzum: Sie
würde ihn sich aus dem Kopf schlagen müssen.
Mittlerweile
hatten sie die ersten Ausläufer von Holborn erreicht. Bald würden sie zu Hause
sein. Bathsheba musste etwas zu essen kaufen, wenngleich sie kaum noch Geld
hatte. Sie überlegte, ob es wohl für ein Abendessen reichen würde, dessen Reste
morgen zum Frühstück verwendet werden konnten. Diese Überlegungen sowie die
Erinnerung an die dunklen Augen und die tiefe Stimme, die langen Beine und die
breiten Schultern, und der Schmerz, den diese Erinnerung ihr bereitete, ließen
sie schärfer als gewöhnlich sprechen.
»Ich
wünschte, du würdest nicht immer vergessen, dass du dich, anders als Lady Dies
oder Lord Das, nicht in einer solch privilegierten Position befindest«,
sagte sie zu ihrer Tochter. »Wenn du von der respektablen Gesellschaft
akzeptiert werden willst, musst du dich an ihre Regeln halten. Du bist langsam
zu groß, um dich wie ein Wildfang aufzuführen. In ein paar Jahren bist du alt
genug, um zu heiraten, und deine Zukunft hängt von deinem künftigen Mann ab.
Welcher anständige Mann, der eine Stellung zu wahren hat, würde sein Schicksal
und das seiner Kinder wohl in die Hände eines unwissenden und vorlauten
Mädchens legen?«
Olivias
Miene verdüsterte sich.
Sogleich
bedauerte Bathsheba ihre Worte. Ihre Tochter war mutig und voller Energie,
abenteuerlustig und fantasievoll. Es erzürnte einen geradezu, ihren
unabhängigen Geist bändigen zu müssen.
Doch blieb
ihr eine andere Wahl?
Mit einer
ordentlichen Schulbildung, guten Manieren und ein wenig Glück würde Olivia
einen passenden Mann finden. Keinen Adeligen, nein, das gewiss nicht. Obwohl
Bathsheba es nicht bereute, den Mann geheiratet zu haben, den sie liebte,
wollte sie Olivia den Kummer, der mit einer solchen Mesalliance einherging,
gern ersparen.
Bathshebas
Hoffnungen waren bescheiden. Sie wünschte sich, dass Olivia geliebt wurde, gut
behandelt und dass sie sicher versorgt war. Ein Anwalt, ein Arzt oder ein
anderweitig
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