Lorettas letzter Vorhang
nicht, er war ihre Vergangenheit, sie dachte immer nur an die Zukunft.»
Und dann holte der junge Pastor der Komödiantin, der plötzlich Tränen über die Wangen liefen, obwohl sie dabei erstaunlich wütend aussah, doch noch ein Glas Wasser. Und weil gerade niemand in der Nähe war, griff er in den Schrank mit dem Wein für das Abendmahl und goß ihr ein Glas von seinem allerbesten ein, der eigentlich für die hohen kirchlichen Feiertage reserviert war. Und weil ihm das alles sehr ungewöhnlich und aufregend erschien, goß er auch sich ein Glas ein und war froh, daß nicht gerade eines seiner Pfarrkinder auftauchte.
Matti und Lies und auch Loretta bekamen an diesem Tag keinen Besuch mehr. Nachdem Rosina ihr Glas geleert hatte, hatte sie es sehr eilig, in die Stadt zurückzukommen. Sie wußte nicht, was sie dort zuerst tun, mit wem sie zuerst sprechen wollte, aber das würde ihr auf dem Weg dorthin schon einfallen. Natürlich mußte sie Wagner von der Sache mit dem Kreuz und dem Namen berichten, aber viel wichtiger war, herauszubekommen, wer außer ihr Lorettas Taufnamen kannte. Wer ihn kennen konnte. Lukas vielleicht, wenn sie ihn mehr geliebt hatte, als Rosina annahm. Es konnte schon sein, daß Loretta ihm ihr Geheimnis anvertraut hatte, obwohl Rosina sich das nicht vorstellen konnte. Aber Lukas saß in der Fronerei. Hatte der nicht eine Schwester? Er durfte keine Besuche haben, aber es gab Möglichkeiten, Nachrichten hinein- und hinauszuschmuggeln. Vielleicht hatte Lukas seine Schwester beauftragt, dieses Kreuz machen zu lassen. Dann war klar,warum der Mann, der es zum Pastorat gebracht hatte, gleich wieder verschwunden war, denn natürlich durfte niemand wissen, daß Lukas aus der Fronerei heraus Aufträge erteilte. Sie mußte unbedingt mit Freda Blank sprechen.
Wer kam noch in Frage? Hätte «Loretta Grelot» auf dem Kreuz gestanden, hätte vielleicht Anne Herrmanns den Auftrag gegeben, um ihr, Rosina, heimlich eine Freude zu machen. So war Anne. Es stand der andere Name darauf, aber sie konnte sie trotzdem fragen. Vielleicht fiel Anne etwas ein. Oder Claes. Wer noch? Seyler? Natürlich, Seyler konnte Lorettas Namen wissen. Oder Löwen? Sie leiteten das Theater, andererseits gab es keinen Grund, warum Loretta sich ihnen hätte anvertrauen sollen. Sie hieß seit Jahren Grelot, seit sie sich in Frankreich ein Paß-Papier gekauft hatte, das dies bezeugte. Oder stimmte doch, was in den Garderoben geflüstert wurde, sobald Madame Hensel den Rücken drehte, nämlich daß Seyler Loretta die Rolle in dem Schäferspiel nicht umsonst gegeben habe?
Die Fragen gingen immer im Kreis, immer wieder im Kreis. Niemand konnte es wissen, eigentlich blieb nur Lukas als Auftraggeber für das Kreuz. Aber der Spruch:
Ich muß unstet und flüchtig sein auf Erden.
Paßte er zu Loretta? Gewiß war sie unstet gewesen, war immer weitergezogen, immer auf der Jagd nach dem Glück, das sie im Kleinen nie erkennen konnte.
Oder hatte es in der Zeit, als Rosina noch nicht in der Stadt war, eine andere Liebschaft gegeben? Loretta war ja einige Wochen vor ihr eingetroffen. Wer konnte davon wissen? Wahrscheinlich Charlotte oder besser: Semiramis. Das Mädchen und seine dicke Katze schienen überall herumzukriechen und alles zu wissen, was sie nichts anging.
Plötzlich blieb sie stehen. Es war nur ein Glück, daß sie den kürzeren Weg quer über die Wiesen genommen hatte, denn jeder, der auf der belebten Straße hinter ihr gegangen wäre, hätte ihr kaum mehr ausweichen können. Natürlich! Ein anderer Liebhaber. Der Mann aus dem Elsaß. Sie hatte es gewußt. Es war nicht Lukas und auch niemand vom Theater gewesen. Es konnte nur der Mann aus dem Elsaß sein. Er mußte in der Stadt sein, er hatte von ihrem Tod gehört, vielleicht hatte er sie sogar selbst getötet. Nur so konnte es gewesen sein. Aber warum hatte er die Stadt dann nicht gleich nach seiner Untat verlassen? Vielleicht hatte er das getan, der Mann mit dem Kreuz konnte von überall gekommen sein. Es gab viele Dörfer, von denen ein Ritt in die Stadt weniger als eine Stunde dauerte. Auch viele einsame Höfe, auf denen niemand bemerkte, wenn einer heimlich eine Inschrift in ein Stück Buchenholz brannte.
Aber das glaubte Rosina nicht. Die Beschreibung des Pastors war mager. Aber sie war dennoch sicher, daß der Mann mit dem Kreuz derjenige gewesen war, der den verkrüppelten Bettler fast umgeritten hatte. Und der war eindeutig auf die Wälle zu, also in die Stadt zurück
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