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Lorettas letzter Vorhang

Lorettas letzter Vorhang

Titel: Lorettas letzter Vorhang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Petra Oelker
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eine Amtsperson, immerhin   …
    «Wagner, hier bin ich.»
    Der Weddemeister drehte sich um und sah Rosina um einen Mauervorsprung hervorsehen. «Hier sind wir ungestört», sagte sie und war schon wieder verschwunden. Hinter dem Vorsprung verbarg sich ein hübscher Erker, in dem nur ein Tisch Platz hatte. Helles Licht fiel durch ein Fenster zum Innenhof, in dem Jakobsens Schuppen, der Pferdestall und ein kleiner Gemüsegarten mit einem Brunnen und einigen Obstbäumen die Enge der Stadt vergessen ließen.
    Rosina hatte vor sich auf dem Tisch alles ausgebreitet, was in Lorettas Beutel gewesen war. Das war nicht viel, und Wagner sah sowieso nur das in Ölpapier eingewickelte kleine Paket, das sie unberührt gelassen hatte.
    «Euer Glück, daß Ihr endlich kommt, Wagner», sagte sie vergnügt. «Noch eine Minute, und ich hätte mich nicht mehr bezähmen können. Das kann doch nur das Musterbuch sein, meint Ihr nicht auch? Aber ich wollte das Öffnen Euch überlassen. Nun setzt Euch endlich, und packt es aus. Ich platze sonst. Trotzdem muß ich Euch zuerst etwas anderes erzählen, das noch viel verwirrender ist.»
    Wagner vergaß seinen Durst, schob sich auf die Bank und wischte sich erschöpft die nasse Stirn. So etwas hatte er nicht gerne. Er hatte es gerne Schritt für Schritt, eines nach dem anderen. Er mochte Rosina, schon seit ihrer erstenBegegnung, damals, als er mit dem Hundeführer in den Krögerschen Hof kam und sie zum ersten Mal sah, mit zornblitzenden Augen und entschlossenem Mund. Er schätzte auch ihren lebendigen Geist, ihre Neugier fand er allerdings ein wenig gefährlich, und daß sie ständig drei Dinge auf einmal dachte und auch noch debattieren wollte, überaus anstrengend.
    «Schön, schön», seufzte er, «eines nach dem anderen. Was zuerst? Das ganz Verwirrende?»
    Rosina nickte, und dann erzählte sie schnell von ihrem Besuch auf dem Friedhof, von dem Kreuz, von dem Mann, der es gebracht hatte, und schließlich – sie liebte dramatische Effekte – von dem Namen auf dem Kreuz.
    «Lore Gürlich», sagte sie, «das ist Lorettas Taufname, den weiß hier niemand außer mir, das dachte ich jedenfalls bis heute mittag. Gewiß auch der Mann, der sie ins Elsaß mitnahm. Aber sonst? Das ist doch verrückt. Wer läßt ein Kreuz machen und legt es heimlich in den Hof des Pastorats? Der, der sie getötet hat, wird so etwas kaum tun. Oder glaubt Ihr, doch?»
    Immerhin, dachte Wagner, war sie hin und wieder an seiner Meinung und Erfahrung als Weddemeister interessiert.
    «Das ist in der Tat seltsam. Lore wie?»
    «Gürlich.»
    «Lore Gürlich. Ein recht gemeiner Name, in keiner Weise besonders, wenn auch in unserer Gegend nicht üblich. Ich kenne niemanden, der so heißt.»
    Es kostete ihn Mühe, sich auf diese Geschichte einzulassen, denn anders als Rosina fand er diese Sache zwar bedenkenswert, aber doch nicht sehr aufregend. Menschen taten nun mal seltsame Dinge, wenn jemand starb. So war das mit den Gefühlen, sie brachten alles durcheinanderund behinderten jede geordnete Ermittlung. Natürlich war das eine interessante Begebenheit und unbedingt wert, genauer untersucht zu werden. Aber im Augenblick interessierte ihn viel mehr, nämlich brennend, das Paket in Ölpapier.
    «Und der Spruch», unterbrach Rosina seine Gedanken, «der Spruch auf dem Kreuz ist auch seltsam, sagt der Pastor. ‹Ich muß unstet und flüchtig sein auf Erden.›»
    «Aha? Das ist wirklich merkwürdig», sagte Wagner. «Man sollte es noch einmal überprüfen, aber wenn ich mich nicht sehr irre, ist das ein Satz aus der Geschichte von Kain und Abel. Oder aus dem Buch Daniel? Ich muß gestehen, daß ich nicht so sicher in der Bibel bin, wie ich sein sollte, aber ich glaube doch, daß Kain das beklagt, nachdem er seinen Bruder erschlagen hat. Ich persönlich finde ja, daß diese Geschichte viel zu milde ausgeht, aber das tut nun nichts zur Sache. Wenn es Euch recht ist, Rosina, können wir das später prüfen. Ich möchte nun endlich untersuchen, was da vor Euch auf dem Tisch liegt. Wo habt Ihr den Beutel überhaupt gefunden? Er muß sehr gut versteckt gewesen sein.»
    Der Beutel, erklärte sie ihm rasch, habe in einer tiefen Ecke im Gebälk gleich über der Leiter gesteckt, die auf die Oberbühne führe. Er sei deshalb leicht zu übersehen gewesen, und nur ein schlaues Wesen wie Semiramis, fügte sie lächelnd hinzu, das im Dunkeln gut sehe und einen flüchtenden Käfer bis in die letzte verborgene Ecke verfolge, habe den Beutel

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